Prozess Leibstadt
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Titel

Beschwerde betreffend Gesuch um Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen für den Langzeitbetrieb des Kernkraftwerks Leibstadt

Datum

27.01.2025, 17:10

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Dokument

Meta

Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht betreffend dem Gesuch um Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen für den Langzeitbetrieb des Atomkraftwerks Leibstadt. Das Dokument ist für den Datenschutz der Beschwerdeführenden teilweise geschwärzt.

Von

Beschwerdeführende

An

Kernkraftwerk Leibstadt AG, 5325 Leibstadt,

Beschwerdegegnerin

sowie

Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK, Generalsekretariat GS-UVEK, Rechtsdienst, Bundeshaus Nord, 3003 Bern,

Vorinstanz

Seite 1

Zürich, 27. Januar 2025

Beschwerde betreffend Gesuch um Durchführung einer umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen für den Langzeitbetrieb

Sehr geehrte Frau Präsidentin
Sehr geehrte Damen und Herren Bundesverwaltungsrichterinnen und
Bundesverwaltungsrichter
Sehr geehrte Damen und Herren

In Sachen

  1. (geschwärzt)

  2. (geschwärzt)

  3. (geschwärzt)

  4. (geschwärzt)

  5. (geschwärzt)

  6. (geschwärzt)

  7. (geschwärzt)

  8. (geschwärzt)

  9. (geschwärzt)

  10. (geschwärzt)

  11. (geschwärzt)

  12. (geschwärzt)

  13. (geschwärzt)

  14. (geschwärzt)

  15. (geschwärzt)

Beschwerdeführende,

alle vertreten durch RAin lic.iur. Seraina Schneider und/oder RA Martin Looser,
ettlersuter Rechtsanwälte, Klausstrasse 43, Postfach 3062, 8034 Zürich,

gegen

Seite 2

Kernkraftwerk Leibstadt AG, 5325 Leibstadt,

Beschwerdegegnerin,

sowie

Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK, Generalsekretariat GS-UVEK, Rechtsdienst, Bundeshaus Nord, 3003 Bern,

Vorinstanz,

betreffend

Gesuch um Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen für den Langzeitbetrieb des Kernkraftwerks Leibstadt (Verfügung des UVEK vom 11. Dezember 2024, Aktenzeichen: 631-9/34),

erheben wir namens und mit Vollmacht der Beschwerdeführenden  

Beschwerde

und stellen folgende

Rechtsbegehren:

1.                 

1.1 Dispositiv-Ziff. 1 der angefochtenen Verfügung sei aufzuheben und die Vorinstanz sei anzuweisen, für den Langzeitbetrieb des Kernkraftwerks Leibstadt eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung mit Öffentlichkeitsbeteiligung anzuordnen und das entsprechende Verfahren unverzüglich durchzuführen.

1.2  Eventualiter (bei Abweisung von Rechtsbegehren Ziff. 1.1 vorstehend) sei Dispositiv-Ziff. 1 der angefochtenen Verfügung aufzuheben und es sei festzustellen, dass der Langzeitbetrieb des Kernkraftwerks Leibstadt der Pflicht zur grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung mit Öffentlichkeitsbeteiligung unterstellt ist.

1.3 Subeventualiter (bei Abweisung von Rechtsbegehren Ziff. 1.1 und 1.2 vorstehend) sei Dispositiv-Ziff. 1 der angefochtenen Verfügung aufzuheben und die Sache sei zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Seite 3

2.                 

2.1 Dispositiv-Ziff. 2 der angefochtenen Verfügung sei aufzuheben und es sei von einer Kostenauflage zulasten der Gesuchstellenden und heutigen Beschwerdeführenden abzusehen und ihnen sei eine angemessene Parteientschädigung für das vorinstanzliche Verfahren zuzusprechen.

2.2 Eventualiter (bei Abweisung von Rechtsbegehren Ziff. 2.1 vorstehend) sei Dispositiv-Ziff. 2 der angefochtenen Verfügung aufzuheben und es seien die Kosten des vorinstanzlichen Verfahrens auf ein zulässiges bzw. angemessenes Mass zu reduzieren und den Gesuchstellenden und heutigen Beschwerdeführenden sei eine angemessene Parteientschädigung für das vorinstanzliche Verfahren zuzusprechen.

2.3 Subeventualiter (bei Abweisung von Rechtsbegehren Ziff. 2.1 und 2.2 vorstehend) sei Dispositiv-Ziff. 2 der angefochtenen Verfügung aufzuheben und die Sache sei zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

3. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen (inkl. MWST) zulasten der Beschwerdegegnerin bzw. der Vorinstanz.

Begründung:

I. Formelles

  1. Vollmachten: Die Unterzeichneten sind gehörig bevollmächtigt.

Seite 4

  1. Zuständigkeit: Zur Beurteilung der vorliegenden Beschwerde gegen die Verfügung des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) ist das Bundesverwaltungsgericht zuständig (Art. 31 VGG i.V.m. Art. 5 VwVG, Art. 33 lit. d VGG). Ein Ausschlussgrund im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor.

    BO: Verfügung des UVEK vom 11. Dezember 2024

  2. Frist: Die angefochtene Verfügung ging den Unterzeichneten am 13. Dezember 2024 zu. Unter Berücksichtigung des Fristenstillstandes gemäss Art. 22a Abs. 1 lit. c VwVG ist die Beschwerdefrist mit der vorliegenden Eingabe gewahrt (vgl. Art. 50 VwVG).

    BO: Verfügung des UVEK vom 11. Dezember 2024

  3. Beschwerdelegitimation: Die Beschwerdeführenden haben sich am
    vorinstanzlichen Verfahren beteiligt und sind Adressaten der angefochtenen Verfügung. Da ihr Gesuch um Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen für den Langzeitbetrieb des Kernkraftwerks Leibstadt (nachfolgend: KKL) von der Vorinstanz abgewiesen wurde, sind sie durch die angefochtene Verfügung beschwert. Zumindest die Beschwerdeführenden 3, 7, 8, 9, 10 und 11, die in den zur Notfallschutzzone 1 gehörenden Gemeinden Full-Reuenthal und Klingnau wohnhaft sind (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. a i.V.m. Anhang 3 der Notfallschutzverordnung, NFSV), sind aufgrund ihrer Risikoexposition durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung bzw. Änderung (vgl. BGE 140 II 315, E. 5.1 und E. 4.6 ff., mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR; zur Legitimation zutreffend angefochtene Verfügung, E. I.4). Da die Beschwerdeführenden gemeinsam auftreten und die Beschwerdelegitimation einzelner Beschwerdeführenden gegeben ist, kann die Frage des schutzwürdigen Interesses der übrigen Beschwerdeführenden offenbleiben (vgl. BGE 140 II 315 E. 5.1; ferner auch das Urteil des BVGer A-1969/2017 vom 22. Januar 2019, E. 1.2.2.4).

    BO: Wohnsitznachweise Beschwerdeführende 3, 7, 8, 9, 10 und 11

    Wohnsitznachweise Beschwerdeführende 1, 2, 4, 5, 6, 12, 13, 14 und 15

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  1. Begehren: Mit ihrem Gesuch zuhanden der Vorinstanz verlangten die Gesuchstellenden und heutigen Beschwerdeführenden in der Hauptsache die Durchführung einer grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) mit Öffentlichkeitsbeteiligung vor dem Übergang des KKL in den Langzeitbetrieb. Am 15. Dezember 2024 ist das KKL in den Langzeitbetrieb übergegangen (angefochtene Verfügung, Sachverhalt A), womit das Hauptbegehren gegenstandslos wurde. Im Sinne ihres Eventualbegehrens vor
    Vorinstanz verlangen die Beschwerdeführenden deshalb in der Sache, dass für das KKL eine grenzüberschreitende UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung nachträglich angeordnet und das Verfahren unverzüglich nachgeholt wird (nachfolgend Ziff. 5.2). Eventualiter beantragen die Beschwerdeführenden die Feststellung, dass der Langzeitbetrieb des KKL der Pflicht zur grenzüberschreitenden UVP untersteht (nachfolgend Ziff. 5.3, zum Feststellungsinteresse Rz. 116).

  2. Rügen: Die Beschwerdeführenden rügen eine Verletzung von Art. 10 bzw. 13 BV und Art. 2 bzw. 8 EMRK (in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3–6 und Art. 3 Abs. 1–2 Espoo-Übereinkommen sowie Art. 6 Abs. 2–9 Aarhus-Konvention) sowie von Art. 65 Abs. 2 KEG i.V.m. Art. 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6a Abs. 2 UVPV. Im Kostenpunkt rügen sie eine Verletzung verschiedener Bestimmungen bzw. Rechtsgrundsätze auf Stufe Bundes- und Völkerrecht. Sie bringen damit zulässige Rügen im Sinne von Art. 49 VwVG vor.

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II. Materielles

1. Überblick

  1. Das von der Kernkraftwerk Leibstadt AG (nachfolgend: Beschwerdegegnerin) betriebene KKL nahm am 15. Dezember 1984 seinen kommerziellen Betrieb auf. Nach 40-jähriger Betriebsdauer ging das KKL am 15. Dezember 2024 in den sog. Langzeitbetrieb über (angefochtene Verfügung, Sachverhalt A).

  2. Der Langzeitbetrieb des KKL tangiert das Recht der Beschwerdeführenden auf Leben (Art. 10 BV und Art. 2 EMRK) sowie auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens bzw. auf Schutz ihrer Privatsphäre (Art. 13 BV und Art. 8 EMRK). Daraus resultiert ein grund- bzw. menschenrechtlich geschützter Anspruch der Beschwerdeführenden auf Durchführung einer grenzüberschreitenden UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung für den Langzeitbetrieb des KKL (dazu nachfolgend Ziff. 2).

  3. Zusätzlich untersteht der Langzeitbetrieb des KKL als sog. «lifetime extension» dem von der Schweiz ratifizierten Übereinkommen über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen (Übereinkommen von Espoo; dazu nachfolgend Ziff. 3). Darüber hinaus fällt der Langzeitbetrieb in den Anwendungsbereich des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Aarhus-Konvention; dazu nachfolgend Ziff. 4), welches die Schweiz ebenfalls ratifiziert hat. Beide Übereinkommen statuieren für die Schweiz eine völkerrechtliche Pflicht zur Durchführung einer grenzüberschreitenden UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung für den Übergang des KKL in den Langzeitbetrieb, auf die sich die Beschwerdeführenden zum Schutz ihrer Grund- bzw. Menschenrechte unmittelbar berufen können.

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  1. Vor diesem Hintergrund gelangten die Beschwerdeführenden mit Gesuch vom 26. Februar 2024 an das UVEK als für die Anordnung bzw. Durchführung einer grenzüberschreitenden UVP zuständige Behörde. Darin beantragten sie, dass vor dem Übergang des KKL in den Langzeitbetrieb eine grenzüberschreitende UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen sei; eventualiter sei festzustellen, dass für den Langzeitbetrieb des KKL eine grenzüberschreitende UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlich sei, und es sei das entsprechende Verfahren so als rasch als möglich durchzuführen.

    BO: Gesuch vom 26. Februar 2024

  2. Mit Verfügung vom 11. Dezember 2024 wies das UVEK (nachfolgend: Vorinstanz) die Begehren ab und auferlegte den Beschwerdeführenden die Verfahrenskosten in der Höhe von insgesamt CHF 9'635.00. Diese Verfügung bildet Gegenstand der vorliegenden Beschwerde.

2. Anwendbarkeit der verfahrensrechtlichen Garantien von Art. 10 und 13 BV sowie Art. 2 und 8 EMRK auf den Langzeitbetrieb des KKL

2.1 Allgemeines

  1. Die EMRK, in Kraft getreten für die Schweiz am 28. November 1974, verankert grundlegende Menschenrechte, namentlich das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK). Diese materiellen Konventionsbestimmungen sind wie die entsprechenden Grundrechte der Bundesverfassung (vgl. Art. 10 und Art. 13 BV) unmittelbar anwendbar, d.h. die Betroffenen können sich vor den innerstaatlichen Behörden direkt darauf berufen («self-executing»; vgl. Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2016, 9. Aufl., Rz. 235; anerkennend angefochtene Verfügung, E. II.7.1).

  2. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) begründen Grund- bzw. Menschenrechte eine staatliche Schutzpflicht gegen Gefährdungen, die von Dritten verursacht werden. Entsprechend folgt aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte ein Auftrag des Staates zu einer auf Grundrechtsgefährdung bezogenen Risikovorsorge (vgl. BGE 140 II 315 E. 4.8 betreffend das Kernkraftwerk Mühleberg).

Seite 8

  1. Im Urteil di Sarno und andere gegen Italien vom 10. Januar 2012 (Nr. 30765/08) hielt der EGMR mit Blick auf Art. 8 EMRK fest, die Staaten seien namentlich bei gefährlichen Tätigkeiten verpflichtet, eine den Umständen angepasste Regelung zu erlassen, die der Besonderheit der Tätigkeit und insbesondere dem Mass der sich aus ihr möglicherweise ergebenden Gefahr entspreche (§ 106). Diese Regelung müsse sich auf die Genehmigung, die Aufnahme, den Betrieb, die Sicherheit und die Kontrolle der jeweiligen Tätigkeit beziehen und alle Beteiligten zu angemessenen Massnahmen verpflichten, um einen wirksamen Schutz der Bürger zu garantieren, deren Leben den vom Betrieb verursachten Gefahren ausgesetzt sei.

  2. Im Urteil Hardy und Maile gegen Vereinigtes Königreich vom 14. Februar 2012 (Nr. 31965/07) war eine Beschwerde von Anwohnern gegen den Bau einer Hafenanlage zu beurteilen, in der u.a. Flüssigerdgas umgeladen werden sollte. Unter Bezugnahme auf frühere Fälle kam der EGMR zum Schluss, dass bereits die Exposition einer Person gegenüber einer Umweltgefahr genügend sei, um die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK zu begründen. Damit erstreckte der EGMR den Schutzbereich von Art. 8 EMRK auf die Risikovorsorge, wobei er potentielle Störfälle miteinbezog (§ 187 ff.; vgl. zur Bedeutung dieses Urteils im Kontext von Kernkraftwerken auch BGE 140 II 315 E. 4.9).

  3. In seiner bisherigen Rechtsprechung unterstrich der EGMR insbesondere die Bedeutung von verfahrensrechtlichen Garantien zum Schutz von Umwelt und Individuen vor potentiell gefährlichen Aktivitäten (zum Ganzen Katharina Braig, Umweltschutz durch die Europäische Menschenrechtskonvention, Basel 2013, S. 268 ff.). Zu den durch Art. 8 EMRK garantierten verfahrensrechtlichen Schutzpflichten zählt namentlich die Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung im Vorfeld einer potentiell umweltgefährdenden Aktivität (vgl. etwa Urteil Tãtar gegen Rumänien vom 27. Januar 2009 [Nr. 67021/01]; ferner auch Urteil Hardy und Maile gegen Vereinigtes Königreich vom 14. Februar 2012 [Nr. 31965/07]). Gemäss der Rechtsprechung des EGMR ist der Staat bei Bestehen eines ernsten und substantiellen Risikos für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen verpflichtet, dieses Risiko vorgängig im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu evaluieren und abzuschätzen und gegebenenfalls geeignete Schutzmassnahmen zu ergreifen. Den Betroffenen und der Öffentlichkeit kommen dabei verschiedene Informations- und Beteiligungsrechte zu, namentlich das Recht auf Anhörung und auf Veröffentlichung des Umweltverträglichkeitsberichts. Darüber hinaus ist ein umfassender Zugang zum Gericht zu gewährleisten (Urteil Tãtar gegen Rumänien vom 27. Januar 2009 [Nr. 67021/01], § 107 ff.; in diesem Sinne zutreffend angefochtene Verfügung, E. II.7.3, S. 6).

Seite 9

  1. Bei der Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Schutzpflichten stützt sich der EGMR massgeblich auf die Normen des Umweltvölkerrechts (vgl. Katharina Braig, a.a.O., S. 239 mit weiteren Hinweisen). Dazu zählen namentlich das Espoo-Übereinkommen (nachfolgend Ziff. 3) und die Aarhus-Konvention (nachfolgend Ziff. 4), die zum Schutz bzw. zur Verwirklichung der aus Art. 2 und 8 EMRK (bzw. Art. 10 und 13 BV) fliessenden Individualrechte von den rechtsanwendenden Behörden zu beachten und umzusetzen sind.

2.2 Langzeitbetrieb des KKL als potentiell umweltgefährdende Tätigkeit

  1. Wie nachfolgend aufzuzeigen ist, handelt es sich beim Langzeitbetrieb des KKL um eine Tätigkeit, die voraussichtlich mit erheblichen, grenzüberschreitenden nachteiligen Auswirkungen für Mensch und Umwelt verbunden ist (ausführlich Ziff. 3.5). Als direkte Anwohnende des KKL sind die Beschwerdeführenden von diesen Auswirkungen unmittelbar und persönlich betroffen (vgl. BGE 140 II 315 mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR).

  2. Der Langzeitbetrieb des KKL fällt damit in den Schutzbereich von Art. 13 BV und Art. 8 EMRK (Schutz der Privatsphäre bzw. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) sowie in denjenigen von Art. 10 BV und Art. 2 EMRK (Recht auf Leben). In verfahrensrechtlicher Hinsicht folgt daraus eine Verpflichtung der staatlichen Behörden zur Durchführung einer UVP mit umfassender Information und Beteiligung der Öffentlichkeit (vorstehend Rz. 16).

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  1. Entgegen dem Vorbringen der Vorinstanz (angefochtene Verfügung, E. II.7.3) ergibt sich der Anspruch der Beschwerdeführenden auf Durchführung einer UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung somit unmittelbar aus Art. 13 BV und Art. 8 EMRK (bzw. Art. 10 BV und Art. 2 EMRK). Wie im Folgenden darzulegen ist, begründen darüber hinaus auch das Espoo-Übereinkommen und die Aarhus-Konvention eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Durchführung einer UVP, auf die sich die Beschwerdeführenden zum Schutz ihrer Grund- bzw. Menschenrechte gemäss Art. 13 BV und Art. 8 EMRK (bzw. Art. 10 BV und Art. 2 EMRK) unmittelbar berufen können (entgegen den Erwägungen der Vorinstanz in E. I.4 der angefochtenen Verfügung stützen die Beschwerdeführenden ihre Begehren nicht direkt auf das Espoo-Übereinkommen und die Aarhus-Konvention; vielmehr rügen sie eine Verletzung von Art. 10 und Art. 13 BV bzw. Art. 2 und Art. 8 EMRK, weil die Schweiz ihren Verpflichtungen aus den genannten Übereinkommen nicht nachkommt).

3. Anwendbarkeit des Übereinkommens von Espoo auf den Langzeitbetrieb des KKL

3.1 Allgemeines

  1. Das Übereinkommen über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen (Übereinkommen von Espoo, SR 0.814.06), dem auch die Schweiz beigetreten und das innerstaatlich am 10. September 1997 in Kraft getreten ist, verpflichtet die Vertragsparteien, einzeln oder gemeinsam alle zweckmässigen und wirksamen Massnahmen zur Verhütung, Reduzierung und Bewältigung von erheblichen, grenzüberschreitenden nachteiligen Auswirkungen eines Vorhabens zu ergreifen (Art. 2 Abs. 1 Espoo-Übereinkommen). Zu diesem Zweck haben die Vertragsparteien bei den im Anhang I aufgeführten Vorhaben, die wahrscheinlich erhebliche, grenzüberschreitende nachteilige Auswirkungen zur Folge haben, ein innerstaatliches Verfahren zur Beurteilung der voraussichtlichen Umweltauswirkungen des Vorhabens (UVP, vgl. Art. 1 Ziff. 6 Espoo-Übereinkommen) zu schaffen, das eine Beteiligung der Öffentlichkeit sowie die Ausarbeitung der in Anhang II beschriebenen Dokumentation zur UVP gestattet (Art. 2 Abs. 2 Espoo-Übereinkommen). Die Partei, in deren Zuständigkeitsbereich ein solches Vorhaben geplant ist (Ursprungspartei, vgl. Art. 1 Ziff. 2 Espoo-Übereinkommen) hat sicherzustellen, dass eine UVP entsprechend dem Übereinkommen durchgeführt wird, bevor über die Genehmigung oder Durchführung des Vorhabens entschieden wird (Art. 2 Abs. 3 Espoo-Übereinkommen). Sämtliche betroffene Parteien (vgl. Art. 1 Ziff. 3 Espoo-Übereinkommen) sind von der Ursprungspartei sodann rechtzeitig und umfassend über das Vorhaben in Kenntnis zu setzen (vgl. Art. 2 Abs. 4 und Art. 3 Espoo-Übereinkommen).

Seite 11

  1. Zu den UVP-pflichtigen Vorhaben zählen namentlich Kernkraftwerke und sonstige Kernreaktoren, einschliesslich der Demontage oder Stilllegung solcher Kraftwerke oder Reaktoren (Anhang I Nr. 2 Bst. b Espoo-Übereinkommen). Erfasst sind nicht nur neue Projekte, sondern auch alle grösseren Änderungen einer Anlage («major change to an activity»), die der Entscheidung einer zuständigen Behörde nach einem geltenden innerstaatlichen Verfahren unterliegen («subject to a decision of a competent authority in accordance with an applicable national procedure»; vgl. Art. 1 Ziff. 5 Espoo-Übereinkommen).

  2. 2017 hat die Vertragsstaatenkonferenz eine ad hoc Arbeitsgruppe eingesetzt, um einen Leitfaden zur Anwendbarkeit des Espoo-Übereinkommens auf sog. «lifetime extensions» von Kernkraftwerken auszuarbeiten. Nach mehrjährigen kontroversen Verhandlungen wurde im Dezember 2020 die «Guidance on the applicability of the Convention to the lifetime extension of nuclear power plants» von den Vertragsparteien, darunter auch die Schweiz, verabschiedet (nachfolgend «Guidance»; vgl. decision VIII/6). Die «Guidance» soll die Vertragsstaaten bei der Entscheidung unterstützen, ob für eine geplante «lifetime extension» eines Kernkraftwerks eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung nach Massgabe des Übereinkommens erforderlich ist; die «Guidance» stellt insofern eine massgebliche Auslegungshilfe dar (zur Massgeblichkeit der «Guidance» vgl. auch angefochtene Verfügung, E. II.8.1 und II.8.3.1; ferner Beschluss «Implementation Committee» [vgl. dazu nachfolgend Rz. 25], Nr. 51).

    BO: UNECE, Guidance on the applicability of the Convention to the lifetime extension of nuclear power plants, Geneva, 2021

  3. Nachfolgend wird dargelegt, dass es sich beim Übergang des KKL in den Langzeitbetrieb entgegen den Erwägungen der Vorinstanz (angefochtene Verfügung, E. II.8) um eine «lifetime extension» handelt, die gemäss der «Guidance» dem Espoo-Übereinkommen und damit der Pflicht zur grenzüberschreitenden UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung untersteht. Zu diesem Zweck wird der Langzeitbetrieb zunächst unter den Begriff «lifetime extension» subsumiert (Ziff. 3.2). Anschliessend wird dargelegt, dass und weshalb der Langzeitbetrieb eine grössere Änderung einer Anlage («major change to an activity») darstellt (Ziff. 3.3), die der Entscheidung einer zuständigen Behörde nach einem geltenden innerstaatlichen Verfahren unterliegt («subject to a decision of a competent authority in accordance with an applicable national procedure», vgl. Ziff. 3.4) und wahrscheinlich erhebliche, grenzüberschreitende nachteilige Auswirkungen zeitigt («is likely to cause significant adverse transboundary impact», vgl. Ziff. 3.5).

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  1. Zurzeit führt der zuständige Durchführungsausschuss («Implementation Committee to the Espoo Convention»; vgl. Anhang IV Espoo-Übereinkommen) ein Untersuchungsverfahren («committee initiative») gegen Frankreich wegen möglicher Nichteinhaltung des Espoo-Übereinkommens. Anlässlich seiner 57. Tagung in Genf stellte der Durchführungsausschuss fest, dass der dringende Verdacht bestehe, dass Frankreich im Zusammenhang mit der Laufzeitverlängerung des Kernkraftwerks Tricastin 1 seine Verpflichtungen gemäss Art. 2 Abs. 2 und 3 sowie Art. 3 Abs. 1 und 7 des Espoo-Übereinkommens verletze («The committee found, that there was a profound suspicion of non-compliance by France with its obligations under articles 2 (2)-(3) and 3 (1) and (7) of the Convention in respect of the lifetime extension of unit 1 of Tricastin nuclear power plant»; vgl. Report of the Implementation Committee on its fifty-seventh session, Geneva, 29 August–1 September 2023, Ziff. IV.E. «France», Nr. 66, nachfolgend: Beschluss «Implementation Committee»). Eine Anhörung von Frankreich hat bereits stattgefunden, die Entscheidung des Durchführungsausschusses ist voraussichtlich noch in diesem Jahr zu erwarten.

    BO: ECE/MP.EIA/IC/2023/8, Report of the Implementation Committee on its fifty-seventh session, 22 September 2023

    1. Die Rechtslage in Frankreich ist mit Bezug auf Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken mit der schweizerischen Rechtslage insofern direkt vergleichbar, als auch die französischen Kernkraftwerke – gleich wie die Schweizer Kernkraftwerke – über eine unbefristete Betriebsbewilligung verfügen, wobei alle 10 Jahre eine Periodische Sicherheitsüberprüfung durchzuführen ist. Sowohl in Frankreich als auch in der Schweiz gibt es somit keine befristete Laufzeit, die verlängert werden kann, sondern «nur» einen Langzeitbetrieb. Entsprechend stellen sich sowohl die französischen als auch die schweizerischen Behörden auf den Standpunkt, dass beim Übergang in den Langzeitbetrieb keine UVP nach dem Espoo-Übereinkommen durchgeführt werden müsse.

      BO: Amtliches Bulletin, Nationalrat, 21.8144, Fragestunde, Frage - Egger Kurt «Konsultation über die mögliche Laufzeitverlängerung von Atomreaktoren in Frankreich unter der Espoo Konvention», Antwort des Bundesrates vom 13. Dezember 2021

Seite 13

  1. Angesichts der massgeblichen Parallelen sind die vorstehend zitierten Erwägungen des Durchführungsausschusses zum Langzeitbetrieb in Frankreich (vgl. Rz. 25) auch für das vorliegende Verfahren von Relevanz. Ferner stützen sich die Beschwerdeführenden im Folgenden rechtsvergleichend auf ein Rechtsgutachten vom 26. Juli 2023 (nachfolgend: «Rechtsgutachten»), welches zum Schluss kommt, dass der Langzeitbetrieb der französischen Kernkraftwerke eine Pflicht zur grenzüberschreitenden UVP nach dem Espoo-Übereinkommen auslöst (Julien Bétaille et. al: La soumission à étude d’impact environnemental transfrontière du prolongement de la durée de vie des réacteurs nucléaires français, consultation juridique, Toulouse, le 26 juillet 2023 ; für eine englische Übersetzung vgl. Beilage 8).

    BO: Julien Bétaille et. al.: La soumission à étude d’impact environnemental transfrontière du prolongement de la durée de vie des réacteurs nucléaires français, consultation juridique, Toulouse, le 26 juillet 2023

    Julien Bétaille et. al.: Subjecting the extension of the lifetime of French nuclear reactors to a transboundary environmental impact assessment, legal consultation, Toulouse, 26 July 2023 (englische Übersetzung)

Seite 14

  1. Während das Untersuchungsverfahren betreffend Frankreich noch pendent ist, hat die Vertragsstaatenkonferenz in anderen Fällen betreffend Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken bereits verbindliche Entscheidungen erlassen. Anlässlich ihrer letzten Tagung von Dezember 2024 stellte die Vertragsstaatenkonferenz fest, dass Tschechien seine Verpflichtungen gemäss dem Espoo-Übereinkommen verletzt habe, weil der Staat für die Laufzeitverlängerung des Kernkraftwerks Dukovany keine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt hat. Auf diese Entscheidung bzw. die massgeblichen Erwägungen des zuständigen Durchführungsausschusses ist später zurückzukommen (nachfolgend Rz. 51).

    BO: ECE/MP.EIA/IC/2023/11, Findings and recommendations regarding compliance by Czechia with its obligations under the Convention in respect of the lifetime extension of four reactors of Dukovany nuclear power plant

    ECE/MP.EIA/2024/2, Draft decisions on compliance with the Convention, Geneva, 10 December 2024

3.2 Langzeitbetrieb des KKL als «lifetime extension»

  1. Der Begriff «lifetime extension» wird in der «Guidance» nicht einheitlich definiert, sondern erfasst im Sinne eines «pragmatic approach» (Beschluss «Implementation Committee», Nr. 53) verschiedene Fallkonstellationen, denen gemeinsam ist, dass sie alle auf eine Verlängerung der Lebensdauer eines Kernkraftwerks abzielen. Damit wird den gesetzgeberischen Eigenheiten in den Vertragsstaaten Rechnung getragen. Die «Guidance» macht insbesondere deutlich, dass nicht nur befristete Betriebsbewilligungen, die nach Ablauf der Befristung erneuert oder verlängert werden (Laufzeitverlängerung im formellen Sinne, vgl. Guidance «Situation 1», Ziff. II.C, Nr. 25), eine «lifetime extension» implizieren können, sondern auch unbefristete Bewilligungen, sofern eine mit einer Erneuerung bzw. Verlängerung einer befristeten Bewilligung vergleichbare Situation vorliegt (Guidance, Ziff. II.B, Nr. 22 und 23). Dementsprechend ist es für die Bejahung einer «lifetime extension» auch irrelevant, ob das Konzept eines «design life» oder einer «lifetime extension» im innerstaatlichen Recht vorgesehen ist oder nicht (vgl. Beschluss «Implementation Committee», Nr. 53).

Seite 15

  1. Die «Guidance» bezeichnet namentlich folgende Fallkonstellationen als vergleichbar mit einer Laufzeitverlängerung im formellen Sinne, wobei die Liste nicht abschliessend ist (Beschluss «Implementation Committee», Nr. 53): «A specific periodic safety review towards the end of the established lifetime can be carried out in support of the decision-making process for and may thus indicate a lifetime extension»Situation 3», Guidance, Ziff. II.C, Nr. 31). Weiter kann auch ein «comprehensive refurbishment» oder eine «specific comprehensive requalification» von nicht austauschbaren (Gross-)Komponenten am Ende ihrer Auslegungsdauer eine «lifetime extension» im Sinne der «Guidance» implizieren («Situation 2», Guidance, Ziff. II.C, Nr. 27).

  2. Regelmässige Sicherheitsüberprüfungen sind nicht per se ein Indikator für eine «lifetime extension». Fällt eine regelmässige Sicherheitsüberprüfung aber mit dem Ende der vorgesehenen Lebensdauer zusammen, kann dies auf eine «lifetime extension» hindeuten (Guidance, Ziff. II.C, Nr. 28 und 31; vgl. auch Beschluss «Implementation Committee, Nr. 54).

  3. Die Schweizer Kernkraftwerke, einschliesslich des KKL, die zwischen 1969 und 1984 in Betrieb genommen wurden, sind auf eine Betriebszeit von 30-40 Jahren ausgelegt. Sie können zwar über die Dauer von 40 Jahren hinaus weiterbetrieben werden, solange sie sicher sind; für die Zeit nach dem vierten Betriebsjahrzehnt bzw. für die «verlängerte Betriebsdauer» (explizit Ziff. 5.8.2 Richtlinie ENSI-A03) bedarf es allerdings eines spezifischen Sicherheitsnachweises für den Langzeitbetrieb, der als Bestandteil zur 4. Periodischen Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) einzureichen ist (vgl. Art. 34 Abs. 4 i.V.m. Art. 34a KEV).

    BO: IAEA-TECDOC-1309, Cost drivers for the assessment of nuclear power plant life extension, IAEA, September 2002, Introduction, S. 1 (Auszug)

    IAEA-EBP-Salto, Safety aspects of long term operation of water moderated reactors, IAEA, July 2007, S. 5 und S. 7 (Auszug)

  4. Art. 34 Abs. 4 und Art. 34a KEV betreffend den Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb wurden per 1. Juni 2017 in Kraft gesetzt. Zuvor waren die Anforderungen an den Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb lediglich auf Stufe Richtlinie normiert. Mit der Verankerung der grundlegenden Anforderungen an den Sicherheitsnachweis auf Verordnungsstufe sollten mehr Rechtsverbindlichkeit und Rechtssicherheit für den Langzeitbetrieb von Kernkraftwerken geschaffen werden.

    BO: UVEK, Teilrevision der Kernenergieverordnung (KEV), Erläuterungsbericht, 24. März 2017

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  1. In Konkretisierung der gesetzlichen Anforderungen legt die Richtlinie ENSI-A03 den Gegenstand bzw. Inhalt des Sicherheitsnachweises für den Langzeitbetrieb fest. So hat im Rahmen des Sicherheitsnachweises für den Langzeitbetrieb eine umfassende Beurteilung und Bewertung des Zustands von Grosskomponenten wie des Reaktordruckbehälters oder der Betonhülle des Containments einschliesslich einer Prognose zu erfolgen (Richtlinie ENSI-A03, Ziff. 5.8.2). Überdies sind in einem Nachrüstungskonzept die durchgeführten und geplanten Nachrüstungen und die technischen und organisatorischen Verbesserungsmassnahmen systematisch aufzuzeigen (Richtlinie ENSI-A03, Ziff. 5.8.3). Diese spezifischen, explizit auf den Langzeitbetrieb ausgerichteten Anforderungen sind zusätzlich zur PSÜ zu erfüllen, die alle 10 Jahre zu erfolgen hat. Entsprechend ist dem Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb in der Sicherheitstechnischen Stellungnahme des ENSI zur 4. PSÜ ein eigenes, ausführliches Kapitel gewidmet (siehe am Beispiel des Kernkraftwerks Beznau die Sicherheitstechnische Stellungnahme des ENSI zur Periodischen Sicherheitsüberprüfung 2017, Kapitel 10).

    BO: ENSI-A03, Richtlinie für die schweizerischen Kernanlagen, Periodische Sicherheitsüberprüfung von Kernkraftwerken, Ausgabe Oktober 2014

    ENSI, Sicherheitstechnische Stellungnahme zur Periodischen Sicherheitsprüfung 2017 des Kernkraftwerks Beznau, Kapitel 10 (Auszug)

  2. Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass dem Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb eine besondere Bedeutung und Tragweite zukommt. Im Unterschied zu den alle 10 Jahren stattfindenden PSÜ dient der Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb nicht bloss der laufenden Aufsichtstätigkeit des ENSI (unzutreffend angefochtene Verfügung, E. II.8.3.2, S. 8). Der Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb bildet vielmehr die Grundlage bzw. Bedingung für den Weiterbetrieb eines Kernkraftwerks über die Auslegungsbetriebszeit hinaus. Gemäss den Erwägungen des Durchführungsausschusses impliziert dieser Umstand eine «lifetime extension» im Sinne der «Guidance» («Situation 3», vgl. Beschluss «Implementation Committee», Nr. 55 und 57, ferner auch Rechtsgutachten, S. 13).

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  1. Entgegen dem Vorbringen der Vorinstanz (angefochtene Verfügung, E. II.8.3.2, S. 8) ist es für die Qualifikation als «lifetime extension» unerheblich, dass der Langzeitbetrieb gemäss schweizerischem Recht keinem formellen Entscheidfindungsprozess unterliegt. Wie weiter hinten aufgezeigt wird (Ziff. 3.4), sind die Anforderungen an das Vorliegen einer «decision of a competent authority» im Sinne der völkerrechtlichen Bestimmungen vorliegend erfüllt, zumal der Weiterbetrieb des KKL über die Auslegungsbetriebszeit hinaus voraussichtlich von zahlreichen freigabepflichtigen Nachrüstungsforderungen des ENSI abhängen wird (siehe für das Kernkraftwerk Beznau die Sicherheitstechnische Stellungnahme des ENSI zur Periodischen Sicherheitsüberprüfung 2017, Beilage 15; zu den potentiellen Nachrüstungsforderungen des ENSI vgl. auch angefochtene Verfügung, E. II.8.3.5, S. 12).

  2. Unzutreffend ist im Weiteren, dass im Rahmen des Sicherheitsnachweises für den Langzeitbetrieb keine «spezifische umfassende Wiederholungsprüfung aller nicht ersetzbarer sicherheitskritischer Systeme, Strukturen, Komponenten» stattfindet, wie die Vorinstanz erwog (angefochtene Verfügung, E. II.8.3.2, S. 8). Wie ausgeführt (vorstehend Rz. 34), beinhaltet der Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb eine umfassende Beurteilung und Bewertung des Zustands von nicht ersetzbaren Grosskomponenten. Vom Betreiber ist der Nachweis zu erbringen, dass für die verlängerte Betriebsdauer die Auslegungsgrenzen für die Grosskomponenten nicht überschritten werden (vgl. Art. 34a Abs. 1 lit. b KEV; Richtlinie ENSI-A03, Ziff. 5.8.2). Diese umfassende Überprüfung am Ende der Auslegungsbetriebszeit ist die Grundlage bzw. Bedingung für den Weiterbetrieb der schweizerischen Kernkraftwerke, was ebenfalls eine «lifetime extension» im Sinne der «Guidance» impliziert («Situation 2», Guidance, Ziff. II.C, Nr. 27).

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  1. Darüber hinaus sind auch die unter den angepassten Gefährdungsannahmen zu erbringenden Sicherheitsnachweise (dazu nachfolgend Rz. 63 f.), die auch nicht ersetzbare Komponenten und Strukturen erfassen, als umfassende Requalifizierung («specific comprehensive requalification») im Sinne der «Guidance» einzustufen, die eine UVP-pflichtige «lifetime extension» implizieren (Guidance, Ziff. II.C, Nr. 27).

  2. Nach dem Gesagten liegt beim Langzeitbetrieb des KKL eine mit einer Laufzeitverlängerung im formellen Sinne vergleichbare Situation vor. Der Langzeitbetrieb des KKL fällt damit gemäss der «Guidance» als «lifetime extension» in den Anwendungsbereich des Espoo-Übereinkommens.

3.3 Langzeitbetrieb des KKL als «major change to an activity»

3.3.1 Generelles

  1. Die «Guidance» nennt beispielhaft verschiedene Konstellationen, die im Kontext einer «lifetime extension» als «major change to an activity» im Sinne des Espoo-Übereinkommens qualifiziert werden können, auch wenn sie im Anhang 1 des Espoo-Übereinkommens nicht explizit aufgeführt werden (vgl. Guidance, Ziff. III.A., Nr. 37).

  2. Erfasst sind nicht nur Änderungen am Bau oder Betrieb eines Kernkraftwerks, die wesentlich von der ursprünglichen Bewilligung abweichen («physical works and modifications in the operating conditions», vgl. Guidance, Ziff. III.C.1); auch mehrere untergeordnete bauliche Anpassungen oder verschiedene geringfügige betriebliche Modifikationen können in ihrer Gesamtheit als «major change to an activity» aufgefasst werden, wenn damit im Ergebnis eine Verlängerung der Laufzeit des Kernkraftwerks bezweckt wird («multiple minor changes», vgl. Guidance, Ziff. III.C.3). Darüber hinaus können auch veränderte äussere Gegebenheiten bzw. Rahmenbedingungen, die bei der Erteilung der ursprünglichen Bewilligung nicht berücksichtigt wurden, im Zusammenhang mit einer «lifetime extension» einen «major change to an activity» implizieren («Lifetime extension per se», vgl. Guidance, Ziff. III.C.2; zum Kriterium der «veränderten Umweltbedingungen» vgl. auch Rechtsgutachten, S. 14 f. und S. 20).

  3. Anhang II der «Guidance» enthält eine nicht abschliessende Liste verschiedener Faktoren, die bei der Qualifikation als «major change to an activity» im Einzelfall zu berücksichtigen sind (vgl. Guidance, Ziff. III.C.1, Nr. 47). Von Bedeutung sind etwa der Umfang erfolgter Modernisierungsarbeiten bzw. sicherheitstechnischer Verbesserungen (Anhang II, Ziff. 1.d), ferner auch Veränderungen der Umweltbedingungen, z.B. bedingt durch den Klimawandel (Anhang II, Ziff. 1.e), sowie entsprechende Anpassungsmassnahmen (Anhang II, Ziff. 1.f). Auch eine Erhöhung der Emissionen gegenüber der ursprünglichen Bewilligung, einschliesslich der Ableitung von Kühlwasser (Anhang II, Ziff. 1.c), oder eine im Vergleich zur ursprünglichen Bewilligung erhöhte Produktion von Abfällen (Anhang II, Ziff. 1.b) stellen gemäss der «Guidance» relevante Faktoren dar.

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  1. Gemäss dem Rechtsgutachten zum Langzeitbetrieb der französischen Kernkraftwerke kann ein «major change to an activity» schliesslich auch daraus resultieren, dass Kernkraftwerke über ihre nominelle Lebensdauer hinaus betrieben werden, ohne dass in der Vergangenheit jemals eine UVP durchgeführt worden ist (Rechtsgutachten, S. 15).

3.3.2 «Multiple minor changes» beim KKL

3.3.2.1 Durchgeführte und laufende Arbeiten

  1. Gemäss den in seinen Geschäftsberichten 2006–2022 ausgewiesenen Geldflussrechnungen hat das KKL seit 2005 im Durchschnitt jährlich rund CHF 84 Mio. in Sachanlagen investiert. Insgesamt sind seit der Inbetriebnahme im Jahre 1984 über CHF 1.5 Mrd. in die Instandhaltung, Erneuerung und Modernisierung der Anlage geflossen, davon über CHF 1 Mrd. seit dem Jahr 2010. Soweit technisch möglich wurden die wesentlichen Grosskomponenten in den letzten rund 13 Jahren ersetzt oder erneuert. Mit dem Ziel eines Weiterbetriebs bis mindestens ins Jahr 2045 plant die Beschwerdegegnerin in den kommenden zehn Jahren weitere Investitionen in der Höhe von rund CHF 1 Mrd. in zusätzliche Erneuerungsprojekte. 

    BO: KKL, Medienmitteilung vom 21. März 2024 «Konstant hohe Stromproduktion bei tiefen Kosten»

    KKL, Medienmitteilung vom 12. Januar 2024 «9‘677 Gigawattstunden: Dritthöchste Stromproduktion der Betriebsgeschichte»

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  1. Die erfolgten Investitionen gingen mit einer deutlichen Verbesserung des Wirkungsgrads bzw. der Effizienz der Anlage einher und führten zu einer konstanten Erhöhung der Leistung bzw. der Stromproduktion.

    BO: KKL, Chronik des Kernkraftwerks Leibstadt, abrufbar unter https://www.kkl.ch/unternehmen/ueber-uns/chronik

  2. Für den Zeitraum 2010–2022 sind beispielhaft folgende Instandhaltungs- und Erneuerungsarbeiten, einschliesslich des Austauschs bzw. der Änderung von und an Grosskomponenten, zu erwähnen:

  • 2010:

    Austausch der drei Niederdruckturbinen

    Austausch des Blocktransformators

    Tausch von zwei Niederdruckvorwärmern

  • 2012:

    Einbau eines neuen Hauptgenerators

    Ersatz der Kühlturmeinbauten

  • 2013/2015:

    Erneuerungsarbeiten am Kühlturm

    Realisierung zusätzlicher Sicherheitseinrichtungen mit Notstromdieseln

  • 2017:

    Ersatz der beiden Wasserabscheider-Zwischenüberhitzern

  • 2020:

    Umfangreiche Modernisierung der Leittechnik am Speisewasser- und

    Hauptkondensatsystem sowie weiteren Syste- men der Vorwärmer-Anlage («Projekt PLUS»)

  • 2021:

    Erneuerung des Reaktorumwälzsystems

    Erneuerung des Kondensators

  • 2022:

    Erneuerung der Gleichrichteranlagen

BO: KKL, Chronik des Kernkraftwerks Leibstadt, abrufbar unter https://www.kkl.ch/unternehmen/ueber-uns/chronik
KKL, Geschäftsberichte 2010-2022

  1. Gegenwärtig im Gange bzw. geplant sind sodann namentlich folgende ausgewählte Erneuerungsprojekte, die mit weiteren substantiellen Investitionen verbunden sind:

  • 2022 -

    Modernisierung Steuerstabantriebs- und Informationssystem

    Erneuerung Sicherheitsleittechnik und betriebliche Leittechnik

    Erneuerung Brennelement-Wechsel- und Handhabungsmaschine

    Erneuerung Brandmeldeanlage, Brandschutzmassnahmen

    Erneuerung Notstromdieselaggregate

BO: BFE, Aktennotiz Langzeitbetrieb von Kernkraftwerken, 9. Juli 2024

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  1. Darüber hinaus sollen in Zukunft auch die Chancen der Digitalisierung, von Roboter- und Drohnentechnik über 3D-Visualisierungen bis zu Big-Data-Auswertungen gezielt genutzt werden, womit weitere substantielle Investitionen verbunden sind (KKL, Geschäftsbericht 2022, S. 3).

    BO: KKL, Geschäftsbericht 2022 (Auszug)

  2. Die Vorinstanz bestreitet das Ausmass und den Umfang der seit 2010 am KKL vorgenommenen Instandhaltungs- und Modernisierungsarbeiten zu Recht nicht. Sie macht in diesem Zusammenhang einzig pauschal geltend, dass die aufgeführten «multiple minor changes» von der «1. oder 2. Teilbaubewilligung KKL bzw. der Betriebsbewilligung KKL abgedeckt» seien und deshalb keine Anwendung des Espoo-Übereinkommens auslösen würden (angefochtene Verfügung, E. II.8.3.3.2, S. 9).

  3. Der Einwand der Vorinstanz ist nicht stichhaltig. Mit der Erteilung der Betriebsbewilligung wird einzig festgestellt, dass die Voraussetzungen für den Betrieb im Bewilligungszeitpunkt erfüllt sind (vgl. BGE 139 II 185 E. 10.2.1). Spätere Entwicklungen sind von dieser Beurteilung naturgemäss nicht erfasst. Angesichts der sehr langen Betriebsphase eines Kernkraftwerks und der raschen Fortentwicklung von Wissenschaft und Technik kann die zuständige Betriebsbewilligungsbehörde im Bewilligungszeitpunkt nur einen Bruchteil der Entwicklungen antizipieren, die im Laufe des Betriebs erfolgen (Föhse/Drittenbass, Parteistellung und Rechtsschutz natürlicher Personen im Umfeld von Kernkraftwerken, in: Sicherheit und Recht, 3/2017, S. 170). In diesem Sinne ist jede (Sicherheits-)Beurteilung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorgenommen wird, zwangsläufig gewissermassen provisorisch, beruhend auf dem aktuellen Stand des Wissens (BGE 139 II 185 E. 10.1.3).

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  1. Der zuständige Durchführungsausschuss für das Espoo-Übereinkommen stellte in diesem Kontext mehrfach klar, dass auch physische Arbeiten im Rahmen regelmässiger Wartungsarbeiten oder des Alterungsmanagements als wesentliche Änderungen angesehen werden können, sofern sie zum Zwecke der Verlängerung der Lebensdauer eines Kernkraftwerks erfolgen (vgl. etwa findings an recommendations regarding compliance by Belgium with its obligations under the Convention in respect of the lifetime extension of unit 1 of Thiange nuclear power plant [nachfolgend «findings Belgium»], Nr. 46). Der Durchführungsausschuss wies darauf hin, dass physische Arbeiten im Rahmen regelmässiger Instandhaltungen oder des Alterungsmanagements insbesondere dann von Bedeutung sind, wenn sie gegen Ende der Betriebsdauer bzw. der ursprünglichen Lebensdauer des Kernkraftwerks erfolgen (vgl. etwa findings and recommendations regarding compliance by Czechia with its obligations under the Convention in respect of the lifetime extension of four reactors of Dukovany nuclear power plant [nachfolgend «findings Czechia»], Beilage 9, Nr. 58). Damit wies er den Einwand der betroffenen Regierungen zurück, wonach die durchgeführten Arbeiten im Rahmen der erteilten Bewilligung erfolgt und Teil der regelmässigen Instandhaltung und des Alterungsmanagements gewesen seien (vgl. findings and recommendations on compliance by Bulgaria with its obligations under the Convention with respect to the lifetime extension of units 5 and 6 of Kozloduy nuclear power plant [nachfolgend «findings Bulgaria»], Nr. 47 b und 55).

    BO: ECE/MP.EIA/IC/2023/10, Findings and recommendations regarding compliance by Belgium with its obligations under the Convention in respect of the lifetime extension of unit 1 of Tihange nuclear power plant (findings Belgium)

    ECE/MP.EIA/IC/2023/11, Findings and recommendations regarding compliance by Czechia with its obligations under the Convention in respect of the lifetime extension of four reactors of Dukovany nuclear power plant (findings Czechia)

    ECE/MP.EIA/IC/2023/6, Findings and recommendations on compliance by Bulgaria with its obligations under the Convention with respect to the lifetime extension of units 5 and 6 of Kozloduy nuclear power plant (findings Bulgaria)

Seite 23

  1. Dass die erfolgten Instandhaltungs- und Modernisierungsarbeiten nicht mehr von der ursprünglichen Bewilligung abgedeckt sind, ergibt sich auch daraus, dass sie vom ENSI mit Freigabe gestützt auf Art. 65 Abs. 3 KEG bewilligt wurden (vgl. angefochtene Verfügung, E. 8.3.3.2, S. 9). Eine Freigabe impliziert immer eine Änderung der bestehenden Bau- bzw. Betriebsbewilligung von erheblicher Tragweite (Art. 65 Abs. 3 KEG: «…jedoch Einfluss auf die nukleare Sicherheit oder Sicherung haben können, …»). Demzufolge bedeuten die erfolgten Instandhaltungs- und Modernisierungsarbeiten eine massgebliche Abweichung von der ursprünglichen Bewilligung. Ob die Änderungen als «wesentlich» im Sinne des schweizerischen Rechtsverständnisses zu qualifizieren sind und demzufolge ein Bewilligungsverfahren auslösen (vgl. Art. 65 Abs. 2 KEG), ist für die Bejahung eines «major change to an activity» im Sinne des Espoo-Übereinkommens bzw. der «Guidance» (vorstehend Rz. 40 f.) nicht von Relevanz (zur völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 65 Abs. 2 KEG nachfolgend Rz. 111). Als Völkerrecht hat das Espoo-Übereinkommen Vorrang vor dem innerstaatlichen Recht, weshalb die Voraussetzungen des KEG bzw. der KEV für die Frage der Anwendbarkeit des Espoo-Übereinkommens nicht massgeblich sind (vgl. auch «findings Czecha», Nr. 57, wo der Durchführungsausschuss klarstellte, dass auch Änderungen zwecks Umsetzung von Anforderungen bzw. Bedingungen, die in einer eher allgemein gehaltenen Bewilligung festgelegt sind, relevant sein können).

  2. Die namhaften und kostenintensiven Instandhaltungs- und Modernisierungsarbeiten, die schwerpunktmässig in den letzten 10 Jahren vor dem Ende der Auslegungsbetriebszeit durchgeführt wurden und zahlreiche freigabepflichtige Änderungen der bestehenden Bau- bzw. Betriebsbewilligung erforderten, sprechen in ihrer Gesamtheit für einen «major change to an activity» (vgl. zur Situation in Frankreich auch Beschluss «Implementation committee», Nr. 58 ff., insb. Nr. 61; vgl. auch Föhse/Drittenbass, a.a.O., S. 170, wonach die heutigen Kernkraftwerke nicht mehr vergleichbar sind mit den Anlagen zum Zeitpunkt ihrer Inbetriebnahme).

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  1. Wie nachfolgend aufzuzeigen ist, stehen die erfolgten Änderungen in direktem Zusammenhang mit dem Langzeitbetrieb des KKL bzw. wurden spezifisch zum Zwecke des Langzeitbetriebs durchgeführt.

3.3.2.2 Direkter Zusammenhang zwischen den «multiple minor changes» und dem Langzeitbetrieb des KKL

  1. Wie die Beschwerdegegnerin als Betreiberin des KKL verschiedentlich kommuniziert hat, soll mit den Investitionen in die Instandhaltung und Modernisierung der Anlage sichergestellt werden, dass das KKL auch in Zukunft, im Hinblick auf den angestrebten Langzeitbetrieb von 60 oder mehr Jahren bis mindestens 2045, die Anforderungen an die Sicherheit und Wirtschaftlichkeit erfüllen kann (Geschäftsbericht 2022, S. 3 und 7, Beilage 20). Diese laufenden Instandhaltungen und Modernisierungen seien die Grundlage dafür, dass das KKL auch langfristig sicher und zuverlässig Strom produzieren könne. Insgesamt seien seit 2010 «im Hinblick auf den Langzeitbetrieb über das 40. Betriebsjahr hinaus» über eine Milliarde Franken in das Kraftwerk investiert worden (Geschäftsbericht 2021, S. 3).

    BO: KKL, Geschäftsbericht 2021 (Auszug)

  2. Im aktuellen Geschäftsbericht 2023 lässt sich das KKL wie folgt verlauten (S. 3; Hervorhebung hinzugefügt):

    «Das Kernkraftwerk Leibstadt soll bis mindestens 2045 ein wichtiger Pfeiler der Schweizerischen Stromversorgung bleiben. Dieser Rolle sehen wir uns verpflichtet. Aus diesem Grund rüsteten und rüsten wir unser Kernkraftwerk gestern, heute und morgen immer weiter für den Langzeitbetrieb. Seit Betriebsbeginn hat das KKL bereits rund 1.5 Milliarden Franken in die Anlage investiert. Die Modernisierung der Anlage bewährte sich auch im vergangenen Betriebsjahr und bildet eine wichtige Basis für den verlässlichen Betrieb in den kommenden Jahren. Und unser Investitionsprogramm ist noch lange nicht abgeschlossen: In den nächsten zehn Jahren wollen wir eine weitere Milliarde Franken in Erneuerungen investieren.»

    BO: KKL, Geschäftsbericht 2023 (Auszug)

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  1. Dass den anlagetechnischen Grossinvestitionen ein einheitlicher Planungshorizont von 60 Jahren Betriebsdauer zugrunde liegt, ergibt sich auch aus der Medienmitteilung des KKL vom 12. September 2014 betreffend Anpassungen bei der Abschreibungsdauer: «60 Jahre Betriebsdauer ist ein Planungshorizont, den das Kraftwerk Leibstadt bereits seit längerem für seine Investitionsplanung unterlegt hat. Damit einhergehen die aktuellen und mittelfristig geplanten Grossinvestitionen in die anlagetechnische Sicherheit und Verfügbarkeit und in die langfristige Planung im Bereich Personalpolitik».

    BO: KKL, Medienmitteilung vom 12. September 2014 «Anpassungen bei der Abschreibungsdauer»

  2. Daraus wird deutlich, dass die erfolgten «multiple minor changes» allesamt auf einem einheitlichen Planungsbeschluss beruhen und in der erkennbaren Absicht erfolgten, die Betriebsdauer des KKL über 40 Jahre hinaus zu verlängern. Entgegen den Erwägungen der Vorinstanz (angefochtene Verfügung, E. 8.3.3.2, S. 9) besteht somit ein direkter Zusammenhang («tangible link») zwischen den «multiple minor changes» und dem Langzeitbetrieb des KKL, verstanden als «lifetime extension». Ohne die getätigten Investitionen in die Erneuerung und Modernisierung der Anlage könnte das KKL seinen Betrieb nicht über die ursprünglich vorgesehene Betriebsdauer von 40 Jahren fortsetzen. Damit ist gemäss der «Guidance» das Vorliegen eines «major change to an activity» im Sinne des Espoo-Übereinkommens zu bejahen (vgl. Guidance, Ziff. III.C, Nr. 51; vgl. auch Beschluss «Implementation Committee», Nr. 58 ff., insbesondere Nr. 61).

3.3.3 Veränderte Umwelt- bzw. Rahmenbedingungen im Zeitpunkt des Langzeitbetriebs des KKL

  1. Neben den anlageinternen Veränderungen begründen auch die seit der Inbetriebnahme des KKL im Jahre 1984 erfolgten wesentlichen Veränderungen der Umweltbedingungen und der äusseren Rahmenbedingungen einen «major change to an activity» (vorstehend Rz. 40 f.).

  2. Zu erwähnen ist zunächst die geänderte Ausgangslage hinsichtlich zivilisatorisch bedingter Einwirkungen (Flugzeugabstürze, terroristische Angriffe etc., vgl. dazu Prof. Dr. Manfred Mertins, Studie zu den Sicherheitsdefiziten des Schweizer AKW Leibstadt [nachfolgend: Defizit-Studie KKL], Ziff. 6.5.1, S. 101 ff.). Wie weiter hinten darzulegen ist (Ziff. 3.5.2.4), sind die bestehenden Altanlagen, darunter auch das KKL, nicht gegen Terroranschläge, kriegerische Ereignisse oder Cyber-Angriffe ausgelegt. Namentlich wurden bei der Auslegung gezielte Abstürze heute üblicher Verkehrsflugzeuge nicht berücksichtigt.

    BO: Prof. Dr. Manfred Mertins, Studie zu den Sicherheitsdefiziten des Schweizer AKW Leibstadt [Defizit-Studie KKL], erstellt im Auftrag der Schweizerischen Energiestiftung, 2021

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  1. Von besonderer Bedeutung sind sodann die zwischenzeitlichen Veränderungen aufgrund des Klimawandels, der die Häufigkeit und Intensität von meteorologisch bedingten Einwirkungen (Starkregen, Sturm, Trockenheit etc.) gegenüber den bei der Inbetriebnahme angenommenen Entwicklungen deutlich verstärkt. Die «Guidance» nennt den Klimawandel bzw. dessen Auswirkungen und die dadurch bedingten Anpassungsmassnahmen seitens der Kernkraftwerkbetreiber explizit als massgeblichen Faktor für die Bejahung eines «major change to an activity» (Anhang II, Ziff. 1 e und f, dazu vorstehend Rz. 42; vgl. auch Rechtsgutachten, S. 14).

  2. Auch die Schweiz hatte im Rahmen der Verhandlungen zur «Guidance» auf die veränderten Umweltbedingungen und die damit verbundenen Risiken für Kernkraftwerke hingewiesen. Dabei betonte sie insbesondere die Risiken aufgrund der globalen Erderwärmung, namentlich mit Bezug auf die verfügbare Menge und die durchschnittliche Temperatur des Wassers, das für die Kühlung eines Kernkraftwerks benötigt wird (vgl. BAFU, «Applicabilité de la Convention d’Espoo à la prolongation de la durée de vie des centrales nucléaires » [«Note Jaune»], S. 2 unten).

    BO: BAFU, «Applicabilité de la Convention d’Espoo à la prolongation de la durée de vie des centrales nucléaires» («Note Jaune»)

  3. Bedingt durch die Folgen des Klimawandels legte das ENSI Mitte 2022 die Gefährdungsannahmen für Extremwetter neu fest, wobei insbesondere die Gefährdungsannahmen bezüglich hoher Lufttemperaturen und Tornados verschärft wurden. Dies hat zur Folge, dass alle Schweizer Kernkraftwerke, mithin auch das KKL, ihre Gefährdungsanalysen und Sicherheitsnachweise für Extremwetter-Ereignisse anpassen müssen.

    BO: ENSI, Medienmitteilung vom 14. Juli 2022 «ENSI legt Gefährdungsannahmen für Extremwetter-Ereignisse neu fest»

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  1. Als Folge des Unfalls von Fukushima im Jahre 2011 wurden im Weiteren auch die Gefährdungsannahmen für Erdbeben aktualisiert. Im Zuge dessen forderte das ENSI eine umfassende Neubeurteilung der Erdbebensicherheit aller Kernkraftwerke.

    BO: ENSI, Medienmitteilung vom 5. Februar 2021 «Alle Schweizer Kernkraftwerke erfüllen die aktualisierten Erdbebensicherheit-Standards»

  2. Vor diesem Hintergrund ist es unerfindlich, wie die Vorinstanz in der angefochtenen Verfügung zum Schluss kommen konnte, eine allfällige (!) Klimaerwärmung sei vergleichsweise geringfügig und habe kaum Auswirkungen auf den Betrieb des KKL (angefochtene Verfügung, E. II.8.3.3.3, S. 10). Die vorstehenden Ausführungen zeigen vielmehr, dass sich die äusseren Rahmenbedingungen seit der Inbetriebnahme des KKL massgeblich verändert haben. Folge davon sind bzw. waren erhebliche Anpassungen bei den erforderlichen Sicherheitsstandards (vgl. dazu bereits vorstehend Rz. 38).

  3. Wie ausgeführt, führen auch die erfolgten Änderungen der Umwelt- bzw. Rahmenbedingungen und die dadurch bedingten Anpassungsmassnahmen dazu, dass der Langzeitbetrieb des KKL als «major change to an activity» im Sinne der «Guidance» zu qualifizieren ist («lifetime extension per se», vgl. Guidance, Ziff. III.C.2), der gemäss dem Espoo-Übereinkommen eine UVP-Pflicht auslöst.

  4. Eine Pflicht zur UVP ist umso mehr zu bejahen, als beim KKL weder im Hinblick auf seine Erstellung bzw. Inbetriebnahme noch zu einem späteren Zeitpunkt je eine UVP stattgefunden hat, schon gar nicht in einem grenzüberschreitenden Rahmen mit Öffentlichkeitsbeteiligung (vgl. zu diesem Kriterium vorstehend, Rz. 43). Gleich wie die anderen schweizerischen Kernkraftwerke hat das KKL nicht einmal ein ordentliches Rahmen-, Bau- und Betriebsbewilligungsverfahren nach KEG bzw. ein Rahmenbewilligungsverfahren nach dem nunmehr aufgehobenen Bundesbeschluss zum Atomgesetz durchlaufen. Anwendbar war seinerzeit das Bau- und Betriebsbewilligungsverfahren nach dem Regime von Art. 4 und 5 Atomgesetz. Darin war die Beteiligung der Öffentlichkeit und der Rechtsschutz nur ungenügend verankert (vgl. Föhse/Drittenbass, a.a.O., S. 169, mit Verweis auf die Botschaft über die Ergänzung des Atomgesetzes, BBl 1977 III 293 ff., 302).

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  1. Zur grösseren Bevölkerungsdichte rund um den Standort des KKL gegenüber dem Stand von 1984 nachfolgend Rz. 85.

3.4 Langzeitbetrieb des KKL ist «subject to a decision of a competent authority in accordance with an applicable national procedure»

  1. Die «Guidance» macht deutlich, dass es sich bei der im Zusammenhang mit einer «lifetime extension» erforderlichen «decision of a competent authority» nicht um eine Bewilligung bzw. Genehmigung im formellen Sinne handeln muss (vgl. auch Rechtsgutachten, S. 15 f.). Entscheidend ist nicht die Bezeichnung eines bestimmten Akts, sondern die Frage, ob eine hinsichtlich ihrer Rechtswirkungen mit einer förmlichen Bewilligung «vergleichbare» Anordnung vorliegt (Guidance, Ziff. V.B.2, Nr. 90).

  2. Wie die Vorinstanz insoweit zutreffend ausführt (angefochtene Verfügung, E. 8.3.5, S. 12), erfüllen Kontrollen im Rahmen der laufenden Aufsicht oder Periodische Sicherheitsüberprüfungen die Kriterien einer «decision» in der Regel nicht, weil sie keine Rechtswirkungen für Dritte entfalten (Guidance, Ziff. V.B.3, Nr. 90 und 93). Wird der fortwährende Betrieb des Kernkraftwerks jedoch davon abhängig gemacht, dass die Erkenntnisse einer Periodischen Sicherheitsüberprüfung und namentlich Forderungen zur Verbesserung der Sicherheit umgesetzt werden, können die Kriterien einer «decision» erfüllt sein (Guidance, Ziff. V.B.3, Nr. 95). Entscheidend ist, ob damit Rechte und Pflichten Dritter begründet werden (Guidance, Ziff. V.B.3, Nr. 90).

  3. Im Rahmen seiner Sicherheitstechnischen Stellungnahme zur 4. PSÜ bzw. zum Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb erhebt das ENSI regelmässig zahlreiche Forderungen und Auflagen an die Adresse der Kernkraftwerkbetreiber, von deren Umsetzung der Langzeitbetrieb abhängt (vgl. etwa die zahlreichen Forderungen in der Sicherheitstechnischen Stellungnahme des ENSI zur PSÜ 2017 des Kernkraftwerks Beznau, Beilage 15). Sind die Voraussetzungen von Art. 40 KEV erfüllt, bedarf es für die erforderlichen Anpassungen und Änderungen einer Freigabe durch das ENSI in Form einer anfechtbaren Verfügung (vgl. Art. 65 Abs. 3 KEG i.V.m. Art. 64 KEG; vgl. dazu auch angefochtene Verfügung, E. II.8.3.5, S. 12).

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  1. Auch wenn die Sicherheitstechnische Stellungnahme des ENSI zur 4. PSÜ bzw. zum Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb keine förmliche Bewilligung darstellt, sind die darin festgehaltenen Forderungen und Auflagen betreffend den Langzeitbetrieb für den Betreiber dennoch verpflichtend, womit die materiellen Voraussetzungen für das Vorliegen einer «decision» im Sinne der «Guidance» erfüllt sind. Dies gilt umso mehr, wenn die Sicherheitstechnische Stellungnahme des ENSI zu freigabepflichtigen Änderungen im Sinne von Art. 40 KEV führt, liegt damit doch auch nach schweizerischem Rechtsverständnis eine förmliche Entscheidung vor. Dass solche Freigaben nicht zusammen mit der Sicherheitstechnischen Stellungnahme, sondern nachgelagert erfolgen, ist für die Bejahung einer «decision» unerheblich.

  2. An dieser Stelle ist nochmals zu betonen, dass die Anwendung bzw. Auslegung des Espoo-Übereinkommens losgelöst von den einschlägigen Regelungen im innerstaatlichen Recht zu erfolgen hat (dazu bereits vorstehend, Rz. 52). Entgegen dem Vorbringen der Vorinstanz (angefochtene Verfügung, E. II.8.3.5, S. 12) spielt es deshalb im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle, ob ein bestimmtes Nachrüstungsprojekt eine «wesentliche» Abweichung von der ursprünglichen Bewilligung im Sinne des schweizerischen Rechtsverständnisses darstellt oder nicht (zur völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 65 Abs. 2 KEG nachfolgend Rz. 111). Entscheidend ist, dass die Nachrüstungsforderungen des ENSI im Zusammenhang mit dem Langzeitbetrieb regelmässig zu Änderungen der Bewilligung führen, die eine anfechtbare Verfügung und damit eine «decision» erfordern (vgl. auch vorstehend Rz. 52).

  3. Nach dem Gesagten ist vorliegend auch die Voraussetzung des Vorliegens einer «decision of a competent authority in accordance with an applicable national procedure» zu bejahen.

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3.5 Langzeitbetrieb des KKL «is likely to cause significant adverse transboundary impacts»

3.5.1 Generelles

  1. Das Espoo-Übereinkommen kommt zur Anwendung, wenn die «lifetime extension» voraussichtlich zu erheblichen, grenzüberschreitenden nachteiligen Auswirkungen führt («is likely to cause significant adverse transboundery impacts»).

  2. In gegenständlicher Hinsicht («Auswirkungen») macht die «Guidance» deutlich, dass im Zusammenhang mit einer «lifetime extension» grundsätzlich dieselben Umweltauswirkungen zu berücksichtigen sind wie bei der Inbetriebnahme eines Kernkraftwerks (Guidance, Ziff. IV.B.1, Nr. 55 und Nr. 58). Entsprechend sind sämtliche möglichen nachteiligen Umweltauswirkungen eines Kernkraftwerks von Relevanz und nicht nur diejenigen, die zusätzlich aus der Verlängerung der Laufzeit resultieren (vgl. etwa «findings Belgium», Nr. 50, Beilage 21). Erfasst sind sodann nicht nur die Auswirkungen, die aus dem Normalbetrieb resultieren, sondern auch solche aufgrund von Störfällen, wobei sowohl Auslegungsstörfälle als auch auslegungsüberschreitende Störfälle («beyond design basis accidents» oder «a disaster») zu berücksichtigen sind (vgl. Guidance, Ziff. IV.B.1, Nr. 55 und Nr. 58; ferner auch «findings Belgium, Nr. 51).

  3. Die «Wahrscheinlichkeit» von erheblichen, grenzüberschreitenden nachteiligen Auswirkungen ist im Lichte des Vorsorgeprinzips zu beurteilen (vgl. Guidance, Ziff. IV.B.2, Nr. 66; zum Vorsorgeprinzip auch das Vorwort zur «Guidance»). Der Terminus «is likely» erfasst deshalb alle Szenarien bzw. Auswirkungen, die von der zuständigen Behörde nicht geradezu ausgeschlossen werden können (Guidance, Ziff. IV.B.1, Nr. 59 und Ziff. IV.B.2, Nr. 64; siehe auch «Rechtsgutachten», S. 16).

  4. In seinen «findings and recommendations» zur Laufzeitverlängerung des belgischen Kernkraftwerks Thiange (Beilage 21) hielt der zuständige Durchführungsausschuss fest, dass angesichts der in der Vergangenheit erfolgten, zwar sehr seltenen, aber schwerwiegenden Unfällen in Kernkraftwerken eine Entfernung von 39 km von der Grenze zu den Niederlanden und 60 km von der Grenze zu Deutschland nicht ausreiche, um das Auftreten erheblicher, grenzüberschreitender schädlicher Auswirkungen auf die Umwelt in Deutschland und den Niederlanden auszuschliessen. Der Durchführungsausschuss kam deshalb zum Schluss, dass Belgien bei der Entscheidung über die Anwendbarkeit des Espoo-Übereinkommens nicht alle voraussichtlichen erheblichen grenzüberschreitenden Auswirkungen berücksichtigt habe (Nr. 53 f.; im gleichen Sinne auch «findings Czecha», Nr. 63 f., Beilage 9).

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  1. Was den «grenzüberschreitenden Kontext» und die weiteren Kriterien der «Erheblichkeit» und «Schädlichkeit» der Auswirkungen anbelangt, so sind diese beim Betrieb von Kernkraftwerken regelmässig zu bejahen (vgl. Rechtsgutachten, S. 16 f.), zumal sich das KKL unmittelbar an der Grenze zu Deutschland und in lediglich ca. 45 km Entfernung zu Frankreich befindet.

3.5.2 Wahrscheinlich erhebliche, grenzüberschreitende nachteilige Auswirkungen des Langzeitbetriebs des KKL

3.5.2.1 Vorbemerkung

  1. Die Vorinstanz verneinte das Vorliegen wahrscheinlich erheblicher, grenzüberschreitender nachteiliger Umweltauswirkungen im Zusammenhang mit dem Langzeitbetrieb des KKL, ohne diese Schlussfolgerung zu begründen (angefochtene Verfügung, E. II.8.3.4, S. 11). Darin liegt eine Verletzung der Begründungspflicht als Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV).

  2. Nachfolgend ist aufzuzeigen, dass die Schlussfolgerung der Vorinstanz auch im Ergebnis unzutreffend ist.

 3.5.2.2 Nukleare Risiken des Langzeitbetriebs aufgrund der Alterung des KKL

  1. Wahrscheinlich erhebliche, grenzüberschreitende nachteilige Auswirkungen ergeben sich im Falle des KKL vor allem aufgrund der nuklearen Risiken, die aus der physischen Alterung der Anlage und des im Vergleich zu aktuellen Sicherheitsanforderungen veralteten Sicherheitskonzepts (Veralten der Auslegung) resultieren. Beides birgt gegenüber der Stilllegung des KKL nach seiner ursprünglich geplanten Betriebszeit ein deutlich erhöhtes Risiko für schwere Unfälle und radioaktive Freisetzungen, das durch den Langzeitbetrieb nochmals signifikant zunimmt (vgl. Rechtsgutachten, S. 16 f. und S. 21, mit Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH).

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  1. Beim KKL betreffen die Defizite – im Vergleich zu den Sicherheitsanforderungen nach Stand von Wissenschaft und Technik – namentlich die Redundanz, die Diversität und die Unabhängigkeit bzw. Trennung der Sicherheitssysteme (zum Ganzen Prof. Dr. Manfred Mertins, Defizit-Studie KKL, Beilage 26, Ziff. 3.1 und Ziff. 6.2 f.). An diesen Defiziten vermögen entgegen den Vorbringen der Vorinstanz (angefochtene Verfügung, E. II.8.3.4, S. 11) auch die erfolgten Instandhaltungsarbeiten und Nachrüstungen nichts zu ändern, da die wesentlichen konzeptionellen Schwächen alter Kernkraftwerke bestehen bleiben. Zudem werden durch Nachrüstungsmassnahmen und Reparaturen neue Risiken geschaffen, beispielsweise durch mangelhafte Kompatibilität mit der vorhandenen Technik oder unvorhergesehenen Wechselwirkungen (vgl. dazu Inrag, Risiken von Laufzeitverlängerungen alter Atomkraftwerke, April 2021, Revision 4, S. 174 ff. [Kapitel 9 Zusammenfassung] und S. 178 ff. [Kapitel 10 Schlussfolgerungen]).

    BO: INRAG, Risiken von Laufzeitverlängerungen alter Atomkraftwerke, April 2021, Revision 4 (Auszug)

  2. Aufgrund der bestehenden Defizite und insbesondere der Tatsache, dass jeder weitere Betrieb des KKL in einem gegenüber der Option «Stilllegung» (Zero-Szenario) erhöhten Risiko resultiert, ist der Langzeitbetrieb des KKL mit wahrscheinlich erheblichen, grenzüberschreitenden nachteiligen Umweltauswirkungen verbunden. Aufgrund des generell mit dem Betrieb eines Kernkraftwerks, ganz besonders aber mit dem Betrieb eines gegenüber dem Stand von Wissenschaft und Technik veralteten Kernkraftwerks wie des KKL, einhergehenden Risikos für schwere Unfälle kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass es zu erheblichen, grenzüberschreitenden nachteiligen Auswirkungen kommt (dazu vorstehend Rz. 77 f.). Solche potentiellen Auswirkungen gilt es im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung nach Massgabe des Espoo-Übereinkommens zu evaluieren und mittels geeigneter Massnahmen zu verhüten oder zu reduzieren bzw. zu bewältigen.

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  1. Dabei gilt auch zu berücksichtigen, dass das radiologische Risiko, das vom (Langzeit-)Betrieb des KKL ausgeht, heute wesentlich mehr Menschen betrifft als noch im Jahre 1984. So hat sich die Wohnbevölkerung der Schweiz in den letzten vierzig Jahren von 6.46 Mio. auf 8.96 Mio. erhöht (siehe dazu die Website des Bundesamts für Statistik, abrufbar unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung.assetdetail.32229775.html). Auch im angrenzenden Süddeutschland ist die Bevölkerungsdichte heute deutlich höher als bei der Inbetriebnahme des KKL (vgl. zur Entwicklung der Bevölkerungszahlen und -verteilung um den Standort auch die Sicherheitstechnische Stellungnahme zur PSÜ 2016 des KKL, Ziff. 2.1.5, S. 2-5). Die letzte PSÜ des KKL hat offenbar keine belastbaren Aussagen zur Machbarkeit von Schutzmassnahmen angesichts der höheren Bevölkerungsdichte gemacht. Diese Lücke ist zwingend durch die geforderte UVP zu schliessen.

    BO: ENSI, Sicherheitstechnische Stellungnahme zur PSÜ 2016 des Kernkraftwerks Leibstadt (Auszug)

3.5.2.3 Nukleare Risiken des Langzeitbetriebs im Lichte geänderter Gefährdungsannahmen

  1. Wie bereits ausgeführt, wurden in den vergangenen Jahren die Gefährdungsannahmen für Erdbeben sowie Extremwetter verschärft (dazu vorstehend Rz. 59 ff.). Daraus ergibt sich für den Langzeitbetrieb eine gegenüber dem Zeitpunkt der Inbetriebnahme des KKL erhöhte Risikolage hinsichtlich nuklearer Auswirkungen, die eine umfassende, grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung beim Übergang in den Langzeitbetrieb erforderlich macht. 

3.5.2.4 Nukleare Risiken des Langzeitbetriebs aufgrund ungenügender Auslegung gegen terroristische Angriffe und kriegerische Ereignisse

  1. Die bestehenden Altanlagen, darunter auch das KKL, sind nicht gegen die Gefahren von Terroranschlägen, kriegerischen Ereignissen oder Cyber-Angriffen ausgelegt (vgl. zum mangelnden Schutz gegenüber kriegerischen Ereignissen die Antwort des Bundesrates vom 17. August 2022 [Ziff. 1] zur Interpellation 22.3443 von Nationalrätin Martina Munz). Namentlich wurden bei der Auslegung gezielte Abstürze heute üblicher Verkehrsflugzeuge nicht berücksichtigt (vgl. INRAG, a.a.O., Beilage 30, Ziff. 3.8.3, S. 37 ff.; ferner auch ENSI, Mitteilung vom 28. September 2021 «Gemeinsames Interesse am Schutz sensibler Daten: Warum das ENSI zum terroristischen Flugzeugabsturz nur wenig sagen darf»).

    BO: Amtliches Bulletin, Nationalrat, 22.3443, Interpellation Nationalrätin Munz Martina, Stellungnahme des Bundesrates vom 17. August 2022

    ENSI, Mitteilung vom 28. September 2021 «Gemeinsames Interesse am Schutz sensibler Daten: Warum das ENSI zum terroristischen Flugzeugabsturz nur wenig sagen darf»

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  1. Vor dem Hintergrund der Terroranschläge in New York schrieb das Schweizerische Nuklearforum in einer Aktennotiz vom 21. September 2001:

    «Die Auslegung der Kernkraftwerke gegen externe Einwirkungen berücksichtigt weder in der Schweiz noch weltweit kriegerische Einwirkungen und terroristische Angriffe aus dem Luftraum. Der terroristische Missbrauch eines vollbetankten schweren Verkehrsflugzeuges als Bombe ist weltweit in der Vergangenheit bei keiner technischen oder zivilisatorischen Einrichtung als Bedrohungsszenario einbezogen worden. Die heutigen KKW bieten in diesem Fall keinen vollen Schutz.»

  2. Und weiter:

    «Im Falle eines schweren, die heutige Auslegung der KKW gegen Flugzeugabsturz massiv überschreitenden Flugzeugabsturzes kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zum Versagen der Sicherheitshülle und auch zur Beschädigung der darunter liegenden inneren Gebäudestrukturen kommt. Dabei können auch Beschädigungen des Reaktorkühlsystems oder der Brennelementbecken nicht ausgeschlossen werden. Dies könnte im schlimmsten Fall zu einem grossen Kühlmittelverluststörfall mit Freisetzung von radioaktiven Stoffen in die Umgebung führen. Die Anlagen sind jedoch so ausgelegt, dass selbst dieser extreme Störfall durch das korrekte Funktionieren der Notkühlsysteme beherrscht werden kann. Bei einer Beschädigung oder dem Versagen der verschiedenen redundanten Notkühlsysteme kann ein Kernschmelzunfall jedoch nicht mehr ausgeschlossen werden.»

    BO: Nuklearforum Schweiz, Aktennotiz vom 20. September 2001 «Schutz der schweizerischen Kernkraftwerke gegen einen Flugzeugabsturz»

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  1. Angesichts der neueren Gefahr von Terroranschlägen aus der Luft liegt damit eine gegenüber dem Zeitpunkt der Inbetriebnahme des KKL veränderte Risikolage vor. Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei einem gezielten Flugzeugabsturz auf das KKL zu einer Freisetzung von radioaktiven Stoffen kommt. Mit dem Langzeitbetrieb verlängert sich die Dauer, während der Mensch und Umwelt diesem Risiko ausgesetzt sind. Der Langzeitbetrieb ist somit auch in dieser Hinsicht mit erheblichen, grenzüberschreitenden nachteiligen Auswirkungen verbunden, die eine grenzüberschreitenden UVP erfordern.

 3.5.2.5 Weitere radiologische Auswirkungen des Langzeitbetriebs

  1. Durch den Weiterbetrieb des KKL fallen zusätzliche radioaktive Abfälle an (vgl. zu dieser Problematik Rechtsgutachten, S. 17, ferner S. 21, mit weiteren Verweisen). Insbesondere kommen weitere abgebrannte Brennelemente hinzu. Diese müssen während Jahren abklingen, bevor sie dereinst in Endlagerbehälter verpackt und in ein geologisches Tiefenlager verbracht werden können, in dem sie für eine Million Jahre verwahrt werden müssen. Hochradioaktive Abfälle werden in der Schweiz als massive Umweltbelastung angesehen. Dies ergibt sich daraus, dass gemäss den offiziellen Ökobilanzdaten des Bundes pro kWh Atomstrom 674 Umweltbelastungspunkte (UBP) anfallen, während Wind- und PV-Strom lediglich zwischen 110 und 220 UBP/kWh verursachen (vgl. KBOB, Ökobilanzdaten im Baubereich / Energie). Sowohl das Zwischenlager als auch die geplante Verpackungsanlage sowie der bereits festgelegte Tiefenlagerstandort befinden sich in Grenznähe. Auch in dieser Hinsicht ist der Langzeitbetrieb des KKL somit mit erheblichen, grenzüberschreitenden nachteiligen Auswirkungen verbunden, womit auch insoweit eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich ist.

    BO: Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren KBOB, Liste der Ökobilanzdaten im Baubereich / Energie (2009/1:2022, Version 6.2)

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3.5.2.6 Nicht radiologische Auswirkungen des Langzeitbetriebs

  1. Von den nicht-radiologischen Umweltauswirkungen des Langzeitbetriebs sind insbesondere diejenigen auf das Oberflächengewässer zu erwähnen (vgl. zu dieser Problematik Rechtsgutachten, S. 17).

  2. Pro Sekunde werden für den Betrieb des KKL bzw. die Kühlung mittels Kühlturm dem Rhein bis zu 3.5 m3/s Wasser entnommen (vgl. BBl 2022 1036). Der Langzeitbetrieb des KKL wirkt sich insbesondere auf die Ziele einer nachhaltigen Bewirtschaftung der Wasserkette (Aufrechterhaltung einer suboptimalen Situation in Bezug auf nachhaltige Bewirtschaftung), der Vermeidung von Dürre (Aufrechterhaltung eines begrenzten Austrocknungseffekts) sowie der nachhaltigen Wasserversorgung (keine Bemühungen/Pläne für eine stärker kreislauforientierte Wassernutzung) negativ aus, womit der Langzeitbetrieb auch unter diesem Aspekt eine Umweltverträglichkeitsprüfung indiziert.

    BO: BBl 2022 1036, Kernkraftwerk Leibstadt: Gesuch um punktuelle Anpassung der Betriebsbewilligung und Erlass von Zwischenverfügungen in Sachen Fischschutz

  3. Wie aus der Veröffentlichung des Gesuchs des KKL im Bundesblatt hervorgeht (BBl 2022 1036), ersucht die Beschwerdegegnerin offenbar unter anderem um definitive Erteilung einer Ausnahmebewilligung zwecks Erhöhung der maximalen Temperatur für die Einleitung von Kühlwasser in den Rhein von 30 auf 33°C. Der Stand des hängigen Verfahrens ist den Beschwerdeführenden nicht bekannt. Die Erteilung einer entsprechenden Ausnahmebewilligung hätte nicht nur erhebliche, grenzüberschreitende nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt zur Folge, sondern wäre auch ein klarer Indikator für einen «major change to an activity» im Sinne der «Guidance» (Anhang II, Ziff. 1c; dazu vorstehend Rz. 42).

    BO: Kernkraftwerk Leibstadt: Gesuch um punktuelle Anpassung der Betriebsbewilligung und Erlass von Zwischenverfügungen in Sachen Fischschutz

Seite 37

3.6 Zwischenfazit

  1. Nach dem Gesagten erfüllt der Langzeitbetrieb des KKL sämtliche Anforderungen, die im Sinne der neuen «Guidance» eine Unterstellung unter das Espoo-Übereinkommen und damit eine Pflicht zur UVP implizieren. Beim Langzeitbetrieb handelt es sich um eine «lifetime extension», die als wesentliche Änderung einer Anlage («major change to an activity») der Entscheidung einer zuständigen Behörde nach dem geltenden innerstaatlichen Recht unterliegt («subject to a decision of a competent authority in accordance with an applicable national procedure») und wahrscheinlich erhebliche, grenzüberschreitende nachteilige Auswirkungen zur Folge hat («is likely to cause significant adverse transpoundary impacts»). Entgegen den Erwägungen in der angefochtenen Verfügung besteht für die Schweiz somit eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Durchführung einer grenzüberschreitenden UVP vor dem Übergang in den Langzeitbetrieb, an der die Öffentlichkeit umfassend und wirksam zu beteiligen ist.

  2. Soweit die Vorinstanz auf die schweizerische Gesetzgebung verweist und geltend macht, das KEG sehe keine Pflicht zur UVP vor dem Übergang in den Langzeitbetrieb vor (vgl. angefochtene Verfügung, E. II.8.3.6, S. 13), verkennt sie die vorliegende Thematik. Die Verpflichtung zur Durchführung einer UVP ergibt sich unmittelbar aus dem Völkerrecht (zum persönlichen Anspruch der Beschwerdeführenden gestützt auf Art. 10 und 13 BV bzw. Art. 2 und 8 EMRK vorstehend Ziff. 2). Eine Verankerung dieser Pflicht im nationalen Recht ist nicht erforderlich (zur völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 65 Abs. 2 KEG nachfolgend Rz. 111 f.).

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4. Anwendbarkeit der Aarhus-Konvention auf den Langzeitbetrieb des KKL

4.1 Allgemeines

  1. Das Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Aarhus-Konvention, SR. 0.814.07), das für die Schweiz am 1. Juni 2014 in Kraft getreten ist, beruht auf den drei Pfeilern «Umweltinformation», «Öffentlichkeitsbeteiligung bei umweltrelevanten Entscheidungsverfahren» und «Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten».

  2. Gemäss Art. 6 Abs. 2, Abs. 4 und Abs. 7 Aarhus-Konvention ist die Öffentlichkeit frühzeitig, mithin zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Optionen noch offenstehen, über die geplante Tätigkeit und die relevanten Umstände zu informieren und es ist ihr Gelegenheit zu geben, Anträge und Stellungnahmen einzureichen. Der betroffenen Öffentlichkeit ist überdies Zugang zu allen relevanten Informationen zu gewährleisten, wozu namentlich eine Beschreibung der erheblichen Auswirkungen der geplanten Tätigkeit auf die Umwelt sowie eine Beschreibung der zur Vermeidung und/oder Verringerung der Auswirkungen vorgesehenen Massnahmen gehört (Art. 6 Abs. 6 Aarhus-Konvention). Zu diesem Zweck ist vorgängig eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen (vgl. Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung der Aarhus-Konvention und von deren Änderung vom 28. März 2012, BBl 2012 4323, S. 4344). Das Ergebnis der Öffentlichkeitsbeteiligung ist alsdann bei der Entscheidfindung angemessen zu berücksichtigen (Art. 6 Abs. 8 Aarhus-Konvention).

  3. Art. 6 Aarhus-Konvention findet Anwendung bei Entscheidungen («decisions») über die in Anhang I aufgeführten geplanten Tätigkeiten («proposed activities»; vgl. Art. 6 Abs. 1 Bst. a Aarhus-Konvention). Unter Anhang I fallen namentlich Kernkraftwerke und andere Kernreaktoren, einschliesslich der Demontage oder Stilllegung solcher Kraftwerke oder Reaktoren (Anhang I Nr. 1 Spiegelstrich 5). Erfasst ist sodann jede Änderung oder Erweiterung von Tätigkeiten, wenn sie für sich betrachtet die Kriterien/Schwellenwerte im Anhang I erreicht (Anhang I Nr. 22).

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  1. Gemäss Art. 6 Abs. 10 Aarhus-Konvention hat ferner jede Vertragspartei sicherzustellen, dass bei einer durch eine Behörde vorgenommenen Überprüfung oder Aktualisierung der Betriebsbedingungen («update of operation conditions») für eine in Art. 6 Abs. 1 genannte Tätigkeit die Absätze 2-9 von Art. 6 sinngemäss und soweit dies angemessen ist Anwendung finden.

  2. Im Falle der Laufzeitverlängerung des niederländischen Kernkraftwerks Borssele gelangte der zuständige Durchführungsausschuss für die Aarhus-Konvention («Compliance Committee to the Convention on Access to Information, Public Participation in Decision-making and Access to Justice in Environmental Matters») zum Ergebnis, dass jede Entscheidung, die den Betrieb eines Kernkraftwerks über die ursprüngliche Auslegungslebensdauer von 40 Jahren zulasse, eine Aktualisierung der Betriebsbedingungen im Sinne von Art. 6 Abs. 10 der Aarhus-Konvention darstelle. Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass das Kernkraftwerk über eine unbefristete Betriebsbewilligung verfüge («Findings and recommendations with regard to communication ACCC/C/2014/104 concerning compliance by the Netherlands» [nachfolgend «findings Netherlands»], Nr. 65).

  3. Im Weiteren hielt der Durchführungsausschuss fest, dass es angemessen sei, die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken sinngemäss den Bestimmungen von Art. 6 Aarhus-Konvention zu unterstellen («The committee considers that, …, it is appropriate for extensions of duration to be subject to the provisions of article 6»). Der Durchführungsausschuss begründete dies damit, dass es unvorstellbar sei, dass der Betrieb eines Kernkraftwerks von 40 auf 60 Jahre verlängert werde, ohne dass dies zu erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt führe («findings Netherlands», Nr. 71). Indem die Niederlande im Zusammenhang mit der Laufzeitverlängerung des Kernkraftwerks Borssele auf ein Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung verzichtet habe, habe sie ihre Verpflichtungen gemäss Art. 6 Abs. 4 der Aarhus-Konvention verletzt («findings Netherlands», Nr. 88).

    BO: ECE/MP.PP/C.1/2019/3, Findings and recommendations with regard to communication ACCC/C/2014/104 concerning compliance by the Netherlands (findings Netherlands)

Seite 40

  1. Die Feststellungen und Empfehlungen des Durchführungsausschusses wurden von der Vertragsstaatenkonferenz anlässlich ihres 7. Treffens zum Entscheid erhoben.

    ECE/MP.PP/2021/2/Add.1, Report of the seventh session of the Meeting of the Parties, Addendum, Decisions adopted by the Meeting of the Parties (Decision VII/8m, S. 64 ff.) 

4.2 Langzeitbetrieb des KKL als «update of operating conditions»

  1. Wie im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit des Espoo-Übereinkommens aufgezeigt wurde, ist der Langzeitbetrieb des KKL mit einer Laufzeitverlängerung gleichzusetzen, die der Entscheidung einer zuständigen Behörde unterliegt (vorstehend Ziff. 3.2 und Ziff. 3.4). Damit geht eine «Überprüfung bzw. Aktualisierung der Betriebsbedingungen» einher, die unter Art. 6 Abs. 10 Aarhus-Konvention zu subsumieren ist (vorstehend Rz. 101).

  2. Entgegen den Erwägungen der Vorinstanz (angefochtene Verfügung, E. II.9.3, S. 15) kommen die Vorschriften von Art. 6 Abs. 2–9 Aarhus-Konvention vorliegend sinngemäss zur Anwendung (zum Kriterium der «Angemessenheit» vorstehend Rz. 102). Zwar verfügen die Vertragsparteien bei der Entscheidung über die Frage der Öffentlichkeitsbeteiligung über einen gewissen Ermessensspielraum; führt die Laufzeitverlängerung aber wie vorliegend zu erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt (dazu vorstehend Ziff. 3.5), ist das Kriterium der «Angemessenheit» im Sinne von Art. 6 Abs. 10 Aarhus-Konvention erfüllt und die Absätze 2-9 von Art. 6 kommen zur Anwendung (vgl. «findings Netherlands», Nr. 71; Beilage 37).

  3. Inwiefern die Durchführung einer UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung das ENSI in seiner Aufsichtstätigkeit behindern würde, wie die Vorinstanz pauschal vorbringt (angefochtene Verfügung, E. II.9.3, S. 15), ist nicht ersichtlich. Abgesehen davon steht die Anwendbarkeit der Aarhus-Konvention auf den Langzeitbetrieb des KKL wie ausgeführt nicht im Ermessen der schweizerischen Behörden.

  4. Neben Art. 6 Abs. 10 Aarhus-Konvention liegt auch ein Anwendungsfall von Art. 6 Abs. 1 Bst. a i.V.m. Anhang I Nr. 1 bzw. Nr. 22 Aarhus-Konvention vor. Beim Langzeitbetrieb des KKL handelt es sich völkerrechtlich betrachtet um eine wesentliche Änderung einer Anlage, die der Entscheidung einer zuständigen Behörde unterliegt (dazu vorstehend Ziff. 3.3 und Ziff. 3.4.). Vor diesem Hintergrund und im Sinne des Grundsatzes der einheitlichen Rechtsanwendung ist der Langzeitbetrieb unter Art. 6 Abs. 1 Bst. a i.V.m. Anhang I Nr. 1 bzw. Nr. 22 Aarhus-Konvention zu subsumieren.

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4.3 Zwischenfazit

  1. Nach dem Gesagten besteht für die Schweiz auch nach Massgabe der Aarhus-Konvention eine völkerrechtliche Pflicht zur Durchführung einer grenzüberschreitenden UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung vor dem Übergang des KKL in den Langzeitbetrieb.

5. Rechtsfehlerhafter Sachentscheid der Vorinstanz / Rechtsfolgen

5.1 Verletzung von Art. 10 und 13 BV sowie Art. 2 und 8 EMRK (in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3–6 und Art. 3 Abs. 1–2 Espoo-Übereinkommen sowie Art. 6 Abs. 2–9 Aarhus-Konvention) / Verletzung von Art. 65 Abs. 2 KEG

  1. Wie ausgeführt, ist der Langzeitbetrieb des KKL vom Schutzgehalt von Art. 13 BV und Art. 8 EMRK (bzw. Art. 10 BV und Art. 2 EMRK) erfasst und fällt in den Anwendungsbereich des Espoo-Übereinkommens und der Aarhus-Konvention. Daraus ergibt sich eine völkerrechtliche Pflicht zur Durchführung einer grenzüberschreitenden UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung.

  2. Indem die Vorinstanz die Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Bestimmungen verneinte und die Begehren der Beschwerdeführenden um Anordnung bzw. Durchführung einer grenzüberschreitenden UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung für den Übergang des KKL in den Langzeitbetrieb abwies (angefochtene Verfügung, Dispositiv-Ziff. 1), verletzte sie Art. 13 BV und Art. 8 EMRK (bzw. Art. 10 BV und Art. 2 EMRK) direkt bzw. in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3–6 und Art. 3 Abs. 1–2 Espoo-Konvention sowie Art. 6 Abs. 2–9 Aarhus-Konvention.

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  1. Im Weiteren liegt auch eine Verletzung von Art. 65 Abs. 2 KEG i.V.m. Art. 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6a Abs. 2 UVPV vor. Wie ausgeführt, ist der Langzeitbetrieb im Lichte des Espoo-Übereinkommens und der Aarhus-Konvention als «wesentliche Abweichung von der Bau- bzw. Betriebsbewilligung» (vorstehend Ziff. 3.3) und damit als bewilligungspflichtiger Vorgang zu qualifizieren. Die völkerrechtskonforme Auslegung von Art. 65 Abs. 2 KEG (zur völkerrechts- bzw. staatsvertragskonformen Auslegung des Landesrechts vgl. Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, a.a.O., Rz. 162) führt folglich dazu, dass für den Langzeitbetrieb des KKL eine grenzüberschreitende UVP im Rahmen eines Bewilligungsverfahrens nach Massgabe von Art. 15 ff. KEG bzw. Art. 19 ff. KEG durchzuführen ist (vgl. Art. 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6a Abs. 2 UVPV). Indem die Vorinstanz diese Pflicht verneinte und die entsprechenden Begehren der Beschwerdeführenden abwies, verletzte sie folglich auch Art. 65 Abs. 2 KEG i.V.m. Art. 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6a Abs. 2 UVPV.

  2. Nach dem Gesagten erweist sich der materielle Entscheid der Vorinstanz als rechtsfehlerhaft, weshalb Dispositiv-Ziff. 1 der angefochtenen Verfügung in Gutheissung des Rechtsbegehrens Ziff. 1 aufzuheben ist.

5.2 Pflicht zur nachträglichen Durchführung einer grenzüberschreitenden UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung (Rechtsbegehren Ziff. 1.1)

  1. Am 15. Dezember 2024 ist das KKL in den Langzeitbetrieb übergegangen (angefochtene Verfügung, Sachverhalt A). Der völkerrechtlich geschützte Anspruch der Beschwerdeführenden auf vorgängige Durchführung einer UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung lässt sich folglich nicht mehr durchsetzen.

  2. Die Beschwerdeführenden beantragen deshalb in der Sache, dass für den Langzeitbetrieb des KKL eine UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung nachträglich angeordnet und das entsprechende Verfahren so rasch als möglich nachgeholt wird (Rechtsbegehren Ziff. 1.1). Sie stützen diesen Anspruch direkt auf Art. 13 BV und Art. 8 EMRK (bzw. Art. 10 BV und Art. 2 EMRK) bzw. in Verbindung mit Art. 7 des Espoo-Übereinkommens («Beurteilung nach Projektdurchführung»), ferner auf Art. 65 Abs. 2 KEG i.V.m. Art. 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6a Abs. 2 UVPV.

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  1. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass sich die Vorinstanz zu Recht nicht auf den Standpunkt stellt, die 4. PSÜ bzw. die Sicherheitstechnische Stellungnahme des ENSI zur 4. PSÜ ersetze eine grenzüberschreitende UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung bzw. sei an deren Stelle getreten. Wie der zuständige Durchführungsausschuss für das Espoo-Übereinkommen deutlich gemacht hat, sind regelmässige Sicherheitsüberprüfungen, die sich auf nukleare Aspekte beschränken, trotz gewisser Überschneidungen nicht mit einer UVP vergleichbar (vgl. «findings Bulgaria», Nr. 62, Beilage 22). Aus den im Anhang II des Espoo-Übereinkommens aufgeführten Mindestanforderungen an den UVP-Bericht wird denn auch deutlich, dass im Rahmen einer UVP nach dem Espoo-Übereinkommen (und der Aarhus-Konvention) sämtliche möglichen Umweltauswirkungen (einschliesslich nuklearer Aspekte) einzubeziehen sind (vgl. ferner auch «Guidance», Nr. 44, wonach insbesondere auch mögliche Auswirkungen von Unfällen zu berücksichtigen sind). Zudem stehen der Öffentlichkeit im Rahmen der UVP umfassende Informations- und Beteiligungsrechte zu, was bei der 4. PSÜ nicht der Fall ist.

5.3 Eventualiter: Feststellung des Bestehens einer Pflicht zur grenzüberschreitenden UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung (Rechtsbegehren Ziff. 1.2)

  1. Sollte das angerufene Gericht wider Erwarten zum Schluss gelangen, dass nach dem Übergang des KKL in den Langzeitbetrieb kein Anspruch auf Anordnung bzw. Durchführung einer grenzüberschreitenden UVP mit Öffentlichkeitsbeteiligung mehr besteht bzw. das Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführenden weggefallen sei, so beantragen die Beschwerdeführenden, dass das Bestehen einer UVP-Pflicht vom Gericht förmlich festgestellt wird (Rechtsbegehren Ziff. 1.2). Da vorliegend verfassungs- und konventionsrechtlich geschützte Rechte der Beschwerdeführenden betroffen sind (vorstehend Ziff. 2), ergibt sich das schutzwürdige Interesse am Erlass eines Feststellungsentscheids im Sinne von Art. 25 Abs. 2 VwVG unmittelbar aus Art. 13 EMRK (vgl. BGE 123 II 402 E. 4b/aa; BGE 121 I 87 E. 1b).

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5.4 Subeventualiter: Rückweisung an die Vorinstanz (Rechtsbegehren Ziff. 1.3)

  1. Sollte das angerufene Gericht die Voraussetzungen für den Erlass eines reformatorischen Entscheids in der Hauptsache verneinen, so beantragen die Beschwerdeführenden die Rückweisung der Sache zur neuen Beurteilung und Entscheidung an die Vorinstanz. 

6. Rechtsfehlerhafter Kostenentscheid der Vorinstanz / Rechtsfolgen

  1. Nach dem vorstehend Gesagten erweist sich der angefochtene Entscheid in der Sache als rechtsfehlerhaft, weshalb Dispositiv-Ziff. 1 der angefochtenen Verfügung aufzuheben ist. Als Folge dessen ist auch der Kostenentscheid der Vorinstanz (angefochtene Verfügung, Dispositiv-Ziff. 2) aufzuheben und es ist von einer Kostenauflage zulasten der Gesuchstellenden und heutigen Beschwerdeführenden abzusehen (Rechtsbegehren Ziff. 2.1)

  2. Entgegen den Erwägungen der Vorinstanz (angefochtene Verfügung, E. II.11) richtet sich die Gebührenauflage vorliegend nicht nach Art. 83 Abs. 1 KEG; auch Art. 11 der Verordnung über Gebühren und Aufsichtsabgaben im Energiebereich (GebV-En) ist nicht einschlägig. Die Bestimmungen erfassen dem Wortlaut und Sinn und Zweck entsprechend nur die Gebührenauflage an die Inhaber von Kernanlagen, nuklearen Gütern und radioaktiven Abfällen.

  3. Rechtsgrundlage für die Kostenauflage im erstinstanzlichen Verwaltungsverfahren bildet Art. 46a RVOG. Demgemäss erlässt der Bundesrat Bestimmungen über die Erhebung von angemessenen Gebühren für Verfügungen und Dienstleistungen der Bundesverwaltung (Abs. 1), wobei er das Äquivalenzprinzip und das Kostendeckungsprinzip zu beachten hat (Abs. 3). Der Bundesrat kann Ausnahmen von der Gebührenerhebung vorsehen, soweit dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verfügung oder Dienstleistung gerechtfertigt ist (Abs. 4).

  4. Gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. a der Allgemeinen Gebührenverordnung (AllgGebV) kann auf die Gebührenerhebung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 AllgGebV für den Erlass einer Verfügung dann verzichtet werden, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verfügung oder Dienstleistung besteht. Im gleichen Sinne lässt auch Art. 4 Abs. 2 GebV-En einen Gebührenerlass zu.

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  1. Vorliegend sind die Voraussetzungen für den Verzicht auf eine Gebührenerhebung erfüllt. Die Frage, ob der Langzeitbetrieb des KKL vom Schutzgehalt von Art. 10 und 13 BV sowie Art. 2 und 8 EMRK erfasst ist und unter den Anwendungsbereich des Espoo-Übereinkommens und der Aarhus-Konvention fällt, woraus eine Pflicht zur UVP resultiert, ist von erheblichem öffentlichem Interesse bzw. grosser Relevanz, was die zahlreichen Verfahren vor dem zuständigen Durchführungsausschuss für das Espoo-Übereinkommen betreffend die Laufzeitverlängerung europäischer Kernkraftwerke deutlich machen (vgl. dazu Rz. 51 hiervor). Die sich im vorliegenden Verfahren stellenden Rechtsfragen wurden soweit ersichtlich noch nicht entschieden. Aufgrund des überwiegenden öffentlichen Interesses rechtfertigt es sich, auf die Kostenauflage für das erstinstanzliche Verfahren zulasten der Gesuchstellenden und heutigen Beschwerdeführenden zu verzichten, zumal sie mit ihren Begehren auch inhaltlich obsiegen. 

  2. Sollte das angerufene Gericht wider Erwarten zum Schluss gelangen, dass die Voraussetzungen für einen Verzicht auf die Gebührenerhebung nicht gegeben sind, so beantragen die Beschwerdeführenden die Reduktion der ihnen von der Vorinstanz bzw. dem BFE auferlegten Kosten auf ein zulässiges bzw. angemessenes Mass (Rechtsbegehren Ziff. 2.2).

  3. Die Kostenauflage in der Höhe von insgesamt knapp CHF 10'000.00 verstösst gegen das Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip. Abgesehen davon, dass nicht nachvollziehbar ist, wie sich die auferlegten Gebühren bemessen (insbesondere fehlen Angaben zum Zeitaufwand des BFE, vgl. Art. 3 Abs. 2 GeV-En), steht eine Gesamtgebühr von knapp CHF 10'000.00 in einem deutlichen Missverhältnis zum objektiven Wert der beanspruchten staatlichen Leistung. Soweit ersichtlich hat die Vorinstanz bzw. das BFE keine verfahrensleitenden Schritte unternommen, sondern direkt die angefochtene Verfügung erlassen. Diese ist mit 18 Seiten relativ kurz, wobei ein Grossteil der Begründung in der Zusammenfassung des Vorbringens der Gesuchstellenden bzw. Beschwerdeführenden besteht. Wo die Vorinstanz eigene Erwägungen vorgenommen hat, bleibt die Begründung oft pauschal. Zudem tragen die auferlegten Kosten den berechtigten Interessen der Beschwerdeführenden und der Öffentlichkeit an der Beurteilung des Gesuchs nicht bzw. deutlich zu wenig Rechnung.

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  1. Darüber hinaus hat das Bundesgericht deutlich gemacht, dass jedenfalls im Geltungsbereich von Art. 9 Abs. 4 und 5 Aarhus-Konvention (worunter auch das vorliegende Verfahren fällt) dem Gedanke Rechnung zu tragen sei, dass im Interesse des Umweltschutzes Mitgliedern der betroffenen Öffentlichkeit, welche ausreichende Interessen oder Rechtsverletzungen in gewissen umweltbezogenen Entscheidverfahren geltend machen wollen, der Rechtsweg nicht durch prohibitive finanzielle Prozessrisiken verwehrt werden solle. Daher ist bei der Regelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen in Auslegung und Anwendung des einschlägigen Verfahrensrechts dem völkerrechtlichen Leitgedanken Rechnung zu tragen, dass das Verfahren nicht übermässig teuer sein sollte und die Schweiz als Vertragsstaat der Aarhus-Konvention die Schaffung angemessener Unterstützungsmechanismen zur Beseitigung oder Verringerung finanzieller Hindernisse für einen Zugang zum Gericht zu prüfen hat. Den Vorgaben der Aarhus-Konvention ist im Einzelfall namentlich durch eine Herabsetzung der Verfahrenskosten zu entsprechen; Gemeinwesen und öffentlichen Unternehmen kann dabei eher als privaten Gegenparteien zugemutet werden, ihre Auslagen selbst zu tragen (vgl. BGer 2C_206/2019 vom 25. März 2021, E. 20 mit weiteren Verweisen).

  2. Ein Prozessrisiko in der Höhe von knapp CHF 10'000.00 verunmöglicht bzw. erschwert die Durchsetzung des materiellen Rechts und wirkt eindeutig prohibitiv. Zudem wurde beim Kostenentscheid dem öffentlichen Interesse an der Überprüfung der umweltrechtlichen Rügen nicht bzw. deutlich zu wenig Rechnung getragen. Auch vor diesem Hintergrund ist eine deutliche Herabsetzung der den Beschwerdeführenden auferlegten Verfahrenskosten geboten.

  3. Für den Fall, dass das angerufene Gericht die Voraussetzungen für eine reformatorischen Entscheid im Kostenpunkt als nicht gegeben ansehen sollte, beantragen die Beschwerdeführenden die Aufhebung von Dispositiv-Ziff. 2 der angefochtenen Verfügung und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zwecks erneuter Festsetzung bzw. Bemessung der erstinstanzlichen Verfahrenskosten (Rechtsbegehren Ziff. 2.3). 

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  1. Neben den Kostenfolgen rügen die Beschwerdeführenden auch eine Verletzung ihres Anspruchs auf Parteientschädigung. Ein solcher Anspruch kann sich – wie die Vorinstanz grundsätzlich zutreffend festhält (angefochtene Verfügung, E. II.11, S. 17, mit Verweis auf BVGer B-3318/2007 vom 6. März 2008, E. 8.2.2) – für das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren aus dem Verbot der Rechtsverweigerung (Art. 9 BV) bzw. aus dem Gebot der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) ergeben. Vorliegend sind die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Parteientschädigung für das vorinstanzliche Verfahren erfüllt. Aufgrund der komplexen Rechtsfragen bedingte die Ausarbeitung des Gesuchs den Beizug einer Rechtsvertretung und erforderte einen grossen Zeit- und Arbeitsaufwand. Vor diesem Hintergrund läuft die Abweisung des Entschädigungsbegehrens durch die Vorinstanz (angefochtene Verfügung, Dispositiv-Ziff. 1, und E. II.11, S. 17) in stossender Weise dem Gerechtigkeitsempfinden zuwider. Da die Gesuchstellenden und heutigen Beschwerdeführenden in der Sache obsiegen, ist ihnen für das vorinstanzliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung in der Höhe von mindesten CHF 5'000.00 zuzusprechen.

 7. Kosten- und Entschädigungsfolgen

  1. Ausgangsgemäss sind die Kosten des vorliegenden Beschwerdeverfahrens der Beschwerdegegnerin bzw. der Vorinstanz aufzuerlegen. Den obsiegenden Beschwerdeführenden ist für das Beschwerdeverfahren eine Parteientschädigung im Umfang ihrer Aufwendungen zuzusprechen.

  2. Sollte das Gericht die Beschwerde wider Erwarten ganz oder teilweise abweisen und die Kosten den Beschwerdeführenden auferlegen, so sind die vorstehend genannten Grundsätze (Rz. 124 ff.) vom Gericht entsprechend zu beachten.

Abschliessend ersuchen wir höflich um Gutheissung der Beschwerde und verbleiben